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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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die Brust gedrückt und trug sie aus dem Zimmer.
    Zehn Minuten später saß Ahrens, nachdem er seiner Tochter ein Eis aus der Kühltruhe geholt hatte, an dem sie, neben ihm auf dem Boden sitzend, zufrieden leckte, wieder in seinem Liegestuhl und schlug das dünne Büchlein auf, das Jasmin ihm mit einem knappen, im kindlichen Befehlston vorgetragenen »Bitte vorlesen!« hingehalten hatte: »Das kalte Herz« von Wilhelm Hauff.
    Zuletzt hatte Anette ihr offenbar daraus vorgelesen, denn im hinteren Drittel des Buches, auf Seite 62, steckte ein gelber Zettel. Es handelte sich um einen alten Abholschein der Schnellreinigung in Timmersloh, wohin Anette ihre Kleider brachte, obwohl sie in Borgfeld eine eigene Reinigung besaßen. Warum eigentlich?
    So weit war sie also gekommen, bis Seite 62. Ahrens nippte an seinem kalten Tee, sah Jasmin an, die ihr Capri-Eis bereits zur Hälfte aufgegessen hatte, und heftete seinen Blick auf den ersten Satz der Seite. Dann erhob er seine Stimme:
    »›Und sogar meinen Ehrenwein gießest du aus an Bettelleute, und meinen Mundbecher gibst du an die Lippen der Straßenläufer? Da, nimm deinen Lohn.‹ Frau Liesbeth stürzte zu seinen Füßen und bat um Verzeihung; aber das steinerne Herz kannte kein Mitleid …« Ahrens modulierte seine Stimme theatralisch: »›Elender‹, erwiderte das Glasmännchen, an den Kohlen-Peter gerichtet, ›was würde es mir frommen, wenn ich deine sterblicheHülle an den Galgen brächte? Nicht irdische Gerichte sind es, die du zu fürchten hast, sondern andere, strengere, denn du hast deine Seele an den Bösen verkauft.‹«
    Ahrens hielt inne und ließ das Buch sinken. Denn du hast deine Seele an den Bösen verkauft.
    »Weiter, Papa! Lies weiter! Bitte!«, rief Jasmin und stupste ihn mit dem Ellbogen an.
    »Sei still!«, sagte er nur, »sei endlich still!«
    ***
    Hans-Jürgen Rösner drosselte die Geschwindigkeit, sah in den Rückspiegel, setzte den Blinker und zog den Wagen vom Mittelstreifen auf die äußerste rechte Spur in die Ausfahrt, Raststätte Siegburg-West. An den Zapfsäulen vorbei, durchfuhr er die enge Gasse zwischen zwei Fahrzeugen und hielt an. »Ich muss mal«, hatte Silke Bischoff gesagt.
    Er löste den Sicherheitsgurt und hörte, wie sie hinter ihm die Tür aufstieß. »Ich geh pissen!«, sagte Rösner, sah Marion an, nahm die Pistole aus der Konsole und stieg aus.
    Silke Bischoff stand neben der geöffneten Wagentür, weinte und hielt die linke Hand vors Gesicht.
    »Du brauchst keine Angst haben, es passiert nichts!«, sagte Rösner, um sie zu beruhigen, und schob die Waffe in den Hosenbund. Er verstand sie ja. Doch was sollte er machen? Sie und die Ines waren nun mal ihre Lebensversicherung.
    »Ich hab keine Angst!«, sagte Silke Bischoff kraftlos und wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht. In der Luft schwamm der strenge Benzingeruch, der von den Zapfsäulen herüberwehte. Dazu der Höllenlärm der vorbeidonnernden LKW, das hohe Singen ihrer Reifen auf dem heißen Asphalt.
    »Ich würd dich ja sofort rauslassen«, sagte Rösner, »aber sobald du aus den Augen bist, hämmern die in mich rein! Ich hab kein Bock, mich wie so ’n Köter abknallen zu lassen.«
    »Ja, ich versteh das schon«, sagte Silke Bischoff und sah rüber zu einem Wagen, einem roten Opel, dessen Türen offenstanden.
    Auf der Fahrerseite stand ein Mann in grauen Shorts und einem hellblauen kurzärmligen Hemd, der seine kräftigen sonnengebräunten Arme schützend um die Schultern eines blonden Mädchens, wahrscheinlich seine Tochter, gelegt hatte. Das Mädchen reichte ihm bis zur Brust. Das Mädchen, das einen grasgrünen Rock, ein weißes T-Shirt und hellbraune Sandalen trug, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah zu dem Mann auf. Die beiden sprachen miteinander, doch Silke Bischoff konnte sie wegen der zu großen Entfernung nicht verstehen. Dann lachte das Kind plötzlich laut auf und machte sich von dem Mann los, wirbelte herum und strebte einer Frau entgegen, die aus den Damentoiletten kam.
    Was sie sah, waren Bilder aus einem Leben, das ihr plötzlich unsagbar weit entfernt schien. Unerreichbar. Am liebsten wäre sie hinübergelaufen zu dem Mann, damit er seine Arme nun um sie schlang.
    Nun stieg Marion aus, sah über das Wagendach zu ihnen herüber und streckte sich wie jemand, der aus einem schönen Schlaf erwacht ist. Die beiden anderen blieben im Wagen sitzen.
    »Denk dran!«, sagte Rösner mit seiner kantigen, gebrochenen Stimme und holte sie mit

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