Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
schrie sie und warf ruckartig den Kopf in den Nacken.
»Chris? Was ist?«, fragte Ulrike und sah von ihrer Zeitung auf, in der sie die ganze Zeit las.
»Nichts«, log Chris und biss sich kurz auf die Lippen, »gar nichts.«
»Es ist wegen heute Nacht, stimmt’s?«, sagte Ulrike.
»Die Schüsse, es war schrecklich! Als würde es nie aufhören. Ich dachte, ich sterbe«, antwortete Chris, ließ sich zurück gegen die Kopfstütze gleiten und schloss die Augen. Nie mehr würde sie sich hinter das Steuer eines Taxis setzen. Nie mehr. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. So wie Dr. Brunner es ihr befohlen hatte: Sie müssen, wenn die Angst kommt, versuchen, sich etwas Angenehmes vorzustellen, etwas Schönes. Ein vertrautes Bild, oder etwas, das Sie gernhaben.
Sie stellte sich vor, mit einem Kreuzfahrtschiff unterwegs zu sein, das, umgeben von nichts als azurblauem Meer, seiner vorgegebenen Route folgend, das Wasser durchpflügte. Und sogleich wurde das rhythmische Rauschen des Zuges über die Schwellen zum Stampfen des Schiffsmotors, das in sanften Wellenihren Beckenboden durchlief und die Vibrationen bis ins Innerste ihrer Knochen übertrug. Ihre Gedanken gingen auf Reisen, stießen sich aus der Gegenwart ab wie ein Schwimmer, der schwungvoll vom Startblock abhebt, um hinabzutauchen in die geräuschlose Tiefe.
Doch wie sich seitlich ins Bild schiebende Seevögel, die kreischend über dem Bug des Schiffes flogen und schlagartig die Stille brachen, stiegen Erinnerungen an ihren Vater vor ihrem inneren Auge auf, Momentaufnahmen eines Mannes, den die Einsamkeit zu einem gezähmten Raubtier gemacht hatte, zu einem zahnlosen Tiger, wie man sie in manchen Zoos sah, alt gewordene, müde hin und her schleichende Schatten ihrer selbst, lahm und träge vor Niedergeschlagenheit.
Chris hob ihre Füße auf den Sitz, zog beide Beine eng vor die Brust und umfasste sie, ohne die Augen zu öffnen, mit beiden Armen, senkte den Kopf auf die Knie und kauerte sich zu einer Art Embryonalstellung zusammen. Sie wusste natürlich, dass es ihre eigenen Arme waren, die sie da schützend umschlossen. Doch in ihrer Phantasie waren es die Arme des Polen, dieses Adam, die sie hielten und stützten, damit sie nicht hinabglitt in das dunkle Kellerloch, das sich jeden Moment vor ihr auftun konnte. Adam, der so nett zu ihr gewesen war. Adam, der Busfahrer, der Mann im Dom.
Dem Buch Genesis zufolge war es Gott, der Adam aus Lehm erschaffen und ihm seinen Lebensodem eingehaucht hatte; und weil es nicht gut sei, dass der Mensch allein ist, erschuf Gott aus seiner Rippe Eva, die er ihm zur Seite stellte. Vielleicht würde dieser Adam ihr, der gefallenen Eva, neues Leben einhauchen, nachdem ihr altes in der Nacht für immer unter Splittern der zerschossenen Windschutzscheibe begraben worden war. Sofort spürte sie, wie sie ruhiger wurde und ihre Muskeln sich entspannten. Die Vorstellung, wie eine Gliederpuppe, zerschlagen und mit gerissenen Fäden, an denen eben noch ihr Leben hing, am Bodenzu liegen und von einer guten Seele aufgehoben, geflickt und zu neuem Leben erweckt zu werden, gefiel ihr ungemein.
Die Wiesen und Äcker lagen da wie brennende Schlachtfelder, aus denen da und dort Bäume wie verkohlte, mit der kochenden Erde verschmolzene Leichen aufragten, von der unnachgiebig herabfeuernden Sonne in ein spukhaftes, fiebriges Glimmen versetzt. Einmal taumelten Krähen durch die dickflüssig wirkende Luft, schienen regelrecht darin zu schwimmen, ohne wirklich von der Stelle zu kommen.
Sie warf einen Blick auf Ulrikes Uhr. In knapp zehn Minuten würden sie in Bremen eintreffen. Sie würde in die Taxizentrale gehen, um ihre Sachen zu holen, ihre Schlüssel, ihr Portemonnaie, alles. Als aber der Zug in den Bahnhof einfuhr und zum Stehen kam, stieß sie energisch die Waggontür auf und machte sich, ohne sich noch einmal nach Ulrike umzudrehen, auf den Weg zum Dom.
Bis zum Wall lief sie zu Fuß. Doch das Laufen in der Hitze machte sie schnell müde. Erschöpft blieb sie stehen und sah sich um. An einer Hauswand lehnte ein nicht abgeschlossenes Fahrrad. Ohne zu überlegen, packte sie es am Lenker, riss das Rad herum und trat kräftig in die Pedale.
Mit pochenden Schläfen nahm sie die Bischofsnadel, folgte nach rechts der Ostertorswallstraße und bog in die Sandstraße ab, an deren Ende sich weithin sichtbar die spitz zulaufenden, im grellen Sonnenlicht grünspanfarben glänzenden Zwillingstürme von St. Petri erhoben.
An der Neptun-Fontäne im
Weitere Kostenlose Bücher