Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
vollkommen überlassen. Damit er sie führte. Hinaus aus ihrem Leben, hinein in etwas Neues, Unbekanntes.
»Warum nicht?«, sagte er. »Wenn man wirklich will, kann man alles. Du musst es nur wollen. Oder willst du nicht?«
»Doch«, sagte sie und lächelte zaghaft. »Doch. Aber mein Vater braucht mich im Moment. Er ist gestürzt und liegt im Krankenhaus. Außerdem muss ich …«
»Schon gut«, fiel er ihr ins Wort. »Dann komm nach. Ich warte in Polen auf dich.«
»Ich komme, aber ich weiß nicht, wann.«
»Dobrze«, sagte er und lächelte. »Gut.«
»Bevor du fährst, erzählst du mir deine Geschichte! Ich weiß ja gar nicht, wer du bist.«
»Nur wenn du mir vorher deine erzählst«, sagte er und griff nach seinem Koffer.
»Einverstanden«, sagte sie und nahm seine Hand. »Dann komm!«
***
Hans-Jürgen Rösner presste die Backenzähne so lange gegeneinander, bis der Schmerz sich unter seiner Schädeldecke ausbreitete wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser. »Is dat hier vielleicht ’ne Beerdigung oder wat is?«, fragte er schroff und suchte Degowskis Blick im Rückspiegel. »Seid ihr alle aufs Maul gefallen?«
»Hab genug gequatscht, wegen all die bestussten Journalistenda!«, sagte Degowski und sah raus in die sommerliche Landschaft, Braun- und Grüntöne, die sich so rasch abwechselten, dass ihm, wenn er länger hinsah, schwindelig wurde. »Mach ma dat Radio an!«
»Kannste lang drauf warten!«, entgegnete Rösner ruppig. »Hab nämlich kein Bock mehr, mir den Scheiß, den die da die ganze Zeit im Radio erzählen, anzuhören, verstehste!«
Degowski murmelte etwas Unverständliches. Hans-Jürgen Rösner stieß Marion, die angestrengt aus dem Fenster sah, in die Seite. »Wat is, Kleines? Sach doch ma wat! Kannst einen doch sonst auch in die Hölle quasseln.«
Marion rutschte etwas zur Seite, drehte sich nach hinten und suchte Silke Bischoffs Blick. »’nen schicken Pullover haste da an«, sagte sie.
»Danke«, sagte Silke Bischoff und lächelte angestrengt.
»So einen wollte ich auch schon immer haben. Wo hast ’n den her?«
»Weiß ich gar nicht mehr.« Silke Bischoff legte die Stirn in Falten. »Karstadt, glaub ich. Vielleicht aber auch Kaufhof. Tut mir leid, ich weiß es wirklich nicht.« Sie schloss die Augen.
»Schade«, sagte Marion. »Genau so einen such ich schon seit Monaten. Am Hals rundgeschnitten, ohne Ausschnitt. Gibt’s die auch in Braun oder Rot?«
»In Braun hab ich sie im Kaufhaus gesehen, glaub ich«, sagte Ines Voitle. »Genauso rund am Hals.«
Marion legte beide Arme oben auf den Sitz und das Kinn auf die Arme.
»Was is ’n das? Wolle oder Kaschmir?«, fragte sie. »Darf ich mal anfassen?« Sie streckte den rechten Arm aus und prüfte mit Daumen und Zeigefinger Silke Bischoffs Pullover am Bund. »Is Baumwolle«, sagte sie. »Hundertpro! Vom Angucken hätt’ ich gedacht Kaschmir mit Wolle. Kannste mal sehen, wie man sich täuschen kann.«
»Ich glaube, die gibt’s auch in Kaschmir«, sagte Ines. »Aber Kaschmir ist teuer.«
»Wie viele willst ’n davon?« Hans-Jürgen Rösner drehte den Kopf zur Seite. »Wenn wir hier raus sind, kannste dir so viele Kaschmir-Dinger kaufen, wie de Spass dran hast.« Er lachte. »Aber da, wo wir hinfahren, brauchste keinen Pullover, höchstens ’n Bikini.«
Marion starrte wieder seitlich aus dem Fenster.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Silke Bischoff. Marion blieb stumm.
Rösner überlegte einen kurzen Moment. »Portugal«, sagte er. »Die weisen nicht aus.«
»Wat für ’ne Sprache sprechen die denn da?« Marion klang besorgt.
»Portugiesisch«, sagte Ines Voitle. »In Portugal spricht man Portugiesisch.«
»Ist das wie Spanisch?«, fragte Marion und blickte wieder kurz nach hinten. »Portugal ist doch neben Spanien, oder?«
Degowski sagte nichts, sah nach vorn. Er hätte gern die Augen zugemacht.
»Du bist vielleicht bescheuert«, sagte Rösner. »Spanisch ist Spanisch, und Portugiesisch ist Portugiesisch.«
»Hätte doch sein können«, maulte Marion.
»Wat?« Rösner wurde laut. »Wat hätte sein können?«
»Na, dass sie in Portugal auch Spanisch sprechen«, entgegnete Marion heftig.
»Vielleicht spricht der ein oder andere in Portugal auch Spanisch. Wir sprechen ja auch Englisch oder Französisch. Oder auch Italienisch. Aber eigentlich spricht man in Portugal Portugiesisch.« Ines Voitle sprach, als hätte sie eine Schulklasse vor sich. »So, wie man in Italien Italienisch spricht.«
»Und in Russland
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