Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Linken an der Schulter, legte ihm gleichzeitig von hinten den rechten Arm um den Hals und riss ihn rückwärts zu Boden.
Er hätte nicht sagen können, wie oft er diesen Griff wohl im Lauf seines bisherigen Polizistenlebens trainiert und erfolgreich angewendet hatte. Doch wann immer er ihn im Einsatz praktizierte, hatte er seine Gegner damit in Verlegenheit gebracht.
Diesmal aber liefen die Dinge anders. Denn bei dem Versuch, seinen Gegner aufs Kreuz zu legen wie ein Ringer, der es auf einen Schultersieg abgesehen hat, knickte er mit dem linken Fuß unglücklich um und verlor dadurch das Gleichgewicht. Im selben Moment stieß ihm der auf ihm Liegende seinen rechten Ellbogen in den Magen, so dass ihm kurz die Luft wegblieb und er seine Umklammerung reflexartig löste. Und dann kamen die ersten Schläge, die ihr Ziel mit erstaunlicher Wucht und Präzision fanden.
Kirchner tauchte unter den auf ihn zufliegenden Fäusten weg und ging zum Gegenangriff über. Er war immer noch Käpt’n Ahab, der gegen alle Widerstände Kurs hielt.
Offenbar war er an der Braue getroffen, denn Kirchner spürte, wie ihm Blut ins Auge lief und ihm die Sicht nahm. Doch längst hatte etwas Größeres, Unbekanntes in ihm die Führung übernommen, das ihn nach vorn trieb. Sein Körper arbeitete wie von selbst, seine Fäuste trafen, zogen sich zurück, nahmen von neuem Fahrt auf und trafen wieder.
Einmal meinte er ein Gurgeln zu hören, dann ein dumpfes Knacken. Doch mit jedem Schlag fühlte er sich leichter, so, als kehre er nach einer langen, schrecklichen Odyssee endlich heim. Alles Gewicht fiel auf einmal von ihm ab. Er war wieder im Spiel. Endlich. Und diesmal würde ihn niemand zurückpfeifen.
Da war nur noch diese immer gleiche Pendelbewegung, dieses Vorwärts-Rückwärts seiner Arme, ein selbständiges Auf und Ab, Auf und Ab wie das der Kolben im Innern des auf Hochbetrieb arbeitenden Schiffsmotors der Pequod. Dann endlich drang die Stimme zu ihm durch.
»Neiiiin, aufhören! Hören Sie auf! Sie bringen ihn um«, schriedie Frau, grub ihre Fingernägel in seine Schulter und riss und rüttelte so lange an ihm, bis Kirchner, wie aus einer Trance erwacht, durch einen rötlichen Schleier hindurch ungläubig in die Richtung starrte, aus der die Stimme kam, und seine brennenden, blutverschmierten Fäuste herunternahm.
»Was haben Sie getan, o mein Gott, Hugo«, rief die Frau wieder und kniete plötzlich neben der reglosen Gestalt. »Hugo, ist alles okay?«
Kirchners Herz pochte, hämmerte wie eine Faust, die ungeduldig gegen eine Tür schlug. Die Wände um ihn färbten sich von Grau nach Blau. Irgendwo läutete ein Telefon. Schwere Schritte kamen näher, begleitet vom Krächzen eines Funkgeräts.
Kurz glaubte er, Barbara, seine Schöne, zwischen den Umstehenden auszumachen. Sie stand im Zwielicht etwa zwei Meter von ihm entfernt. Und sie schien zu ihm zu sprechen. Doch er verstand sie nicht.
Er wollte zu ihr, wollte sich erheben und mit ihr fortgehen. Hinaus ins Licht, hinaus in den Sommer, der ihr zweiter gemeinsamer Sommer werden sollte. Doch ihre Konturen verschwammen und lösten sich auf. Wie die eines Geistes, der kurz auftauchte und wieder verschwand. Kirchner konnte nichts anderes tun, als dasitzen und mitanhören, wie eine Männerstimme im Befehlston sagte: »Los! Stehen Sie auf!«
***
Die Flaneure, Geschäftsleute, Obstverkäufer und Schaufenstergucker hatten die Breite Straße zurückerobert. Nichts erinnerte mehr an das Medienspektakel, das sich hier noch vor kurzem zugetragen hatte.
Vor dem Schaufenster eines Lederwarengeschäfts saß ein junger Mann auf einem Campingstühlchen und klimperte alte Beatles-Songs auf seiner Gitarre, nach »Let it Be« und »Here Comes the Sun« nun »All You Need is Love«. Vor sich den offenen,mit heller Kunstseide ausgekleideten Instrumentenkoffer, in dem sich eine Handvoll Silbermünzen verlor. Sein von den Passanten kaum beachtetes Gesinge hallte durch den weitläufigen Korridor. Es wurde übertönt vom Lärm und Geplärre, das aus den offenen Türen der Bistros schallte. Die dichten Kronen der Linden, die kaum Licht nach unten durchließen, sorgten für angenehme Kühle.
Das Hochdruckgebiet hielt sich nun schon so lange über Deutschland, dass die Boulevardzeitungen neue Begriffe dafür erfinden mussten: Aus »Rekordhitze« und »Supersommer« waren »Hitzehölle« und »Inferno-Sommer« geworden, und immer wieder fanden sich Meldungen darüber, dass Personen aufgrund von Dehydrierung
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