Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
in Krankenhäuser eingeliefert worden und Hunde in geparkten Autos verendet waren.
Thomas Bertram, bereits den dritten Cappuccino intus, machte die Hitze schwer zu schaffen. Jede Sekunde, die er länger auf seinem Platz verharrte, statt in die Redaktion zu eilen, trug dazu bei, dass der längst morsch gewordene RTL-Ast, auf dem er saß, noch brüchiger wurde. Bereits zum vierten Mal wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Inzwischen, dessen war er sich sicher, war sein Schicksal als TV-Journalist besiegelt. Denn wahrscheinlich wartete Bässker händeringend auf seine Bilder. Und wenn schon!, dachte er. Sollen sie nur! Ihm war es mittlerweile egal. Scheißegal. Und der Clou dabei war: Er würde Maibach, der ihn mit allergrößter Wahrscheinlichkeit feuern würde, zuvorkommen mit seinem Abgang.
Er hatte die Nase endgültig voll von mit Tickermeldungen bedruckten Papierschlangen, so lang wie das Ungeheuer von Loch Ness. Vom Starren auf schlecht lesbare Teletexte, von Maibachs Launen und davon, die Welt ausschließlich durch die RTL-Brille zu sehen.
Er war Vater geworden, war im Begriff, die Frau, mit der er die Mutter seines Kindes betrog, zu betrügen, und sein Konto beider Kölner Bank verzeichnete gerade mal ein Guthaben von 1800 Mark. Eine Summe, die wahrscheinlich ausreichte, um sich damit für ein Wochenende mit seiner zukünftigen Herzdame nach Mallorca abzusetzen und am Ballermann die Sau rauszulassen; ein verantwortungsvoller Kickstart ins neue Vaterglück jedoch ließ sich damit nicht hinlegen. Wie Thomas Bertram es auch drehte und wendete: Sein Absprung bei RTL war, überlebensstrategisch betrachtet, Selbstmord. Trotzdem war er entschlossen, diesen Weg zu gehen.
Seine Gedanken, die eben noch mit der ruckhaften, zackigen Schnelligkeit von Wasserläufern durch sein Gehirn gehuscht waren, verlangsamten sich, kamen zur Ruhe, standen still. Er sah alles ganz klar. Unmissverständlich und scharf umrissen. Wie beim Blick durch ein Elektronenmikroskop.
Im Grunde konnte er seine Kamera (Wo war eigentlich seine Leiter?) unter dem Tisch liegen lassen. Oder sie in einem Akt symbolischer Selbstbefreiung mit pathetischem Schwung von der Deutzer Brücke hinunter in den Rhein werfen. Eine Rückkehr an seinen Schreibtisch an der Aachener Straße würde es für ihn nicht mehr geben. Er würde sich etwas anderes suchen, bei einer Zeitung oder einem Szene-Magazin anheuern und flotte Texte über die neusten Platten von Oscar Peterson, Miles Davis und Larry Carlton oder die Filme von Martin Scorsese, David Lynch und John Waters verfassen und sich als moralischer Sieger fühlen. Das Karussell der Sensationen würde sich fortan ohne ihn drehen.
Viel zu lang war er Teil einer Sache gewesen, die nicht die seine war. Statt zu zeigen, hatte er zuletzt nur noch kommentiert, und statt zu informieren, suggeriert. Er hatte Meinung gemacht, statt mit Fakten zu überzeugen. Hatte geschwindelt in seinen Beiträgen, hier ein bisschen getäuscht und da ein bisschen herummanipuliert und sich die Wirklichkeit so lang zurechtgebogen, bis sie Maibachs Sichtweise entsprach.
Seine Erregung über die getroffene Entscheidung war auf einmal so groß, dass er sie auf der Stelle jemandem mitteilen musste. Nur wem? Amina würde ihn zweifellos für verrückt erklären, gerade jetzt hinzuschmeißen, wo sie auf jeden Pfennig angewiesen waren. Und Sirvan wirkte zuletzt alles andere als geduldig. Ganz im Gegenteil. Sie hatte fordernd und angespannt geklungen. Blieb nur Sylvia!
Bertram sprang auf, lief ins Innere des Cafés und fand einen Münzfernsprecher bei den Toiletten. Bereits nach dem dritten Läuten nahm sie ab.
»Ich bin’s, Thomas«, rief er gegen den Lärm der Musikbox. »Wie ist die Stimmung? Alles klar?«
»Alles bestens«, antwortete Sylvia.
»Aber vermisst mich denn keiner?«
»Nee, wieso?«
Bertram verstand nicht. »Na ja, wegen …«
»Ach doch«, fiel sie ihm ins Wort. »Jetzt fällt’s mir wieder ein. Frau Lindner aus der Personalabteilung hat angerufen. Du sollst dich bei ihr melden. Dein Mitarbeiterausweis muss erneuert werden. Ich hab dir ihre Nummer auf den Schreibtisch gelegt.«
Bertram schluckte. »Und sonst?
»Nichts.«
»Und Maibach?«
»Ist in der Produktion, sie schneiden den Aufmacher.«
»Welchen Aufmacher? Wovon redest du?«
»Den Frank Söllner gedreht hat. Söllner kam vor einer halben Stunde mit seinem Material rein. Muss ja echt was los gewesen sein in der Breiten Straße?«
»Aber
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