Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
überleben würde.
»Ich werde Meldung über den Fall machen müssen, das wissen Sie«, sagte Scholten.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, antwortete Kirchner.
»Ich verstehe nicht, wie Sie das tun konnten«, sagte Scholten und gab Kirchner seinen Dienstausweis. »Mann, Mann, Mann!«
»Das müssen Sie auch nicht«, antwortete Kirchner, nahm den Ausweis und schob ihn in die Innentasche seiner Windjacke. Erst jetzt registrierte er die Blutflecken an der Brust und den Winkelriss oberhalb der rechten Seitentasche.
Über die Mattscheibe des über der Bar angebrachten Fernsehers flimmerten rasch wechselnde Werbeclips, hektisch hin und her zuckende Bilder, die an in Aufruhr geratene tropische Fische in einem Aquarium erinnerten. Kirchner starrte kurz hinauf, dann ließ er den schwer gewordenen Kopf sinken und sagte: »Nicht mein Tag heute!«
Während er seinen Gegner mit seinen Fäusten bearbeitet hatte, hatte er sekundenlang gedacht: Wenn Robert mich jetzt sehenkönnte! Doch nun kam ihm sein Handeln primitiv vor und vollkommen sinnlos. Scholten würde eine Anzeige wegen einfacher Körperverletzung schreiben und die Staatsanwaltschaft ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleiten.
»Sieht ganz so aus«, erwiderte Scholten und machte dem Mann hinter der Theke ein Zeichen. Anschließend lockerte er seine Krawatte und sagte zu Kirchners Überraschung: »Also, ich brauch jetzt was zu trinken. Und Sie? Na, kommen Sie! Geht auf mich.«
Kirchner sah den Mann, dessen Oberlippe ein wuchtiger Schnauzer zierte, kurz prüfend an. Dann nickte er und antwortete: »Dann aber was Richtiges!«
»Gut, also zwei Pils!«, sagte Scholten zu dem Mann hinter der Bar.
»Kommt sofort«, erwiderte der Kellner unterwürfig und nahm zwei Pilstulpen aus dem Regal.
»Alkohol im Dienst? Noch dazu um die Uhrzeit?«, sagte Kirchner, verzichtete aber wegen der Schmerzen in seiner Wange darauf, zu grinsen.
»Ich hab jetzt seit genau … Moment!« Scholten sah auf seine Armbanduhr, eine alte, silberne Junghans mit grobgliedrigem Stahlarmband: »… achtundzwanzig Minuten Feierabend.«
»Wahrscheinlich werden Sie schon ungeduldig zu Hause erwartet«, sagte Kirchner. »Bei dem Wetter. Schwimmbadwetter, sagt mein Sohn.«
»Nicht wirklich«, sagte Scholten.
»Das tut mir leid«, sagte Kirchner und verfolgte, wie der Barkeeper die goldglänzenden Biergläser vor ihnen abstellte.
»Das muss es nicht«, sagte Scholten und griff nach seinem Glas. »Prost!«
»Ja«, sagte Kirchner, hob sein Glas an und stieß es gegen das des anderen. »Prost!«
Nach drei, vier tiefen Zügen stellte er sein Glas wieder ab,wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe und fragte: »Kennen Sie das Buch ›Moby Dick‹? Tolle Geschichte! Gab auch mal ’n Film, der so hieß. Mit Gregory Peck.«
»Hab ich schon mal gehört, »Moby Dick«, sagte Scholten, und Kirchner konnte sehen, dass er log. Eine halbe Stunde später waren sie bereits beim dritten Glas, und Kirchner, wieder ganz in seinem Käpt’n-Ahab-Ding, kam in Fahrt. Der Alkohol hatte ihm die Zunge gelöst und ihn in eine angenehme Leck-mich-am-Arsch-Stimmung versetzt. Das am Morgen erlebte Fiasko erschien ihm aus den strahlenden Höhen, in die er sich inzwischen geredet hatte, kaum noch erkennbar. Klein und nicht mehr der Rede wert.
Kirchner sonnte sich in Scholtens Bewunderung, angestachelt von dessen neugierigen Fragen. Scholten, der seit Jahren auf der Autobahnwache Hilden Dienst schob und tagaus, tagein nichts anderes sah als Raser, Blechschäden und solche, bei denen weder Mensch noch Maschine zu retten waren, nickte immer wieder anerkennend. Und als Kirchner anfing, von Terrorismusabwehr, deutschem Herbst, RAF und GSG 9 zu erzählen, war Scholten wieder hellwach.
Kirchner hätte nicht sagen können, woher dieser Drang zur Prahlerei kam. Er war plötzlich da, groß und stark und unwiderstehlich. Er wollte sein Leben nicht länger als unbedeutenden Teil von etwas Größerem sehen, sondern selbst dieses Größere sein.
»Ich habe meinen Leuten den Zugriff strikt verboten, um das Leben der beiden Geiseln nicht dadurch zu gefährden«, log er und fühlte, wie gut ihm diese Sicht der Dinge tat. »Dabei hätte ich bloß nicken müssen, so nah waren wir an denen dran, und mein Kollege hätte den Degowski von hinten erledigt. Doch die Unversehrtheit der beiden jungen Frauen hatte oberste Priorität.«
Aus irgendeinem Grund musste er wieder an Robert denken und fragte: »Haben Sie
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