Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
gewesen, sie hatten Pläne gemacht, von einer Reise nach St. Petersburg gesprochen und manchmal zweimal am Tag miteinander geschlafen.
Nach einem knapp zweistündigen Flug waren sie in Oslo gelandet, hatten fünf Tage bei Ludvik, einem Freund von Martin, in dessen heimeligem, weiß-blau gestrichenem Holzhaus direkt am Oslo-Fjord gewohnt, hatten eine Schiffstour gemacht und waren nach ausgelassenen Abenden auf der Terrasse bei Rotwein und dem hervorragenden Essen von Ludviks Frau Eline, die damals zum zweiten Mal schwanger gewesen war, mit dem Überlandzug weiter nach Bergen gefahren. Nicht ohne Ludviks und Elines Tochter Vilde Post zu versprechen.
Die Bergenbahn, die Oslo mit Bergen über Hunderte von Schienenkilometern hinweg miteinander verband, war stundenlang durch eine Art Mondlandschaft gerollt, hatte schrundige, dicht mit Moosen und Gestrüpp bewachsene Hügelgruppen erklommen und sich, immer entlang wechselnder flaschengrün leuchtender Fjorde, in weitgestreckte Täler vorgekämpft, in denen sich da und dort karminrot oder blau gestrichene Holzhäuser verloren.
An einer Westernsaloon-ähnlichen Poststation hatten sie haltgemachtund in der kleinen Kaffeebrennerei köstlichen heißen Kaffee getrunken und Zimtschnecken gegessen. Vikersund, Gol, Hallingskeid, Upsete, Ama – die Namen der Bahnhöfe, an denen die Bahn jeweils für ein paar Minuten zum Stehen gekommen war, ehe sie nach sechseinhalb Stunden in Bergen einfuhr, kamen ihr hinterher wie Elemente einer Formel vor, die, wenn sie sie nur halblaut und bewusst aussprach, im Handumdrehen noch einmal den Zauber der Zeit in Norwegen heraufbeschwor.
Später erfuhr Brigitte, dass George Lucas Mitte der siebziger Jahre Teile seiner »Krieg der Sterne«-Saga in der menschenleeren Hügellandschaft zwischen Oslo und Bergen, der sogenannten Hardangervidda, gedreht hatte. In Bergen dann hatte sie, wie versprochen, eine Karte an Vilde geschrieben und ihr einen Fisch darauf gemalt, der lächelt. Doch wiedergesehen hatte sie die Kleine nicht mehr.
Brigitte war ganz vernarrt in Ludviks und Elines siebenjährige Tochter Vilde gewesen, einen blauäugigen kleinen Wildfang, der seinem Namen alle Ehre machte. In Vilde, das begriff sie später, hatte sie damals das Kind gesehen, das sie nie bekommen hatte. Martin war immer gegen Kinder gewesen. Kurz vor seinem Tod aber, so, als hätte er etwas geahnt, hatte er seine Meinung überraschend geändert und sie gebeten, nicht länger zu verhüten. Doch dann war die Nachricht seines Todes gekommen, und mit seinem Ableben war auch Brigittes Traum von einem Kind, einer eigenen Vilde, gestorben.
Brigitte hatte die Brendboes auf Anhieb gemocht und mit Eline ausgedehnte Spaziergänge und Touren auf den Holmenkollen unternommen, wenn Martin und Ludvik, der damals als Auslandsreporter mit Schwerpunkt Naher Osten für Verdens Gang arbeitete, die Köpfe zusammensteckten, auf der Veranda saßen und stundenlang miteinander redeten und tranken. Martin und Ludvik hatten sich in Beirut kennen- und schätzen gelernt, hatten häufig miteinander telefoniert und sich Faxe geschickt.
Beim Abschied in Oslo in der Mosseveien hatten sie abgemacht, dass sie alle, sobald das zweite Kind auf der Welt und transportfähig sein würde, nach Köln kämen.
Brigitte hatte Vilde den Dom zeigen und gemeinsam mit ihr hinaufsteigen wollen in dessen Türme. Doch zu diesem Besuch war es nie gekommen. Ludvik hatte später angeboten, zu Martins Beerdigung zu kommen, war dann aber bei einem nächtlichen israelischen Raketenangriff auf das Hotel Le Commodore, in welchem die ausländischen Pressevertreter untergebracht gewesen waren, so schwer verletzt worden, dass ein Flug unmöglich war. Anschließend war der Kontakt zwischen ihnen abgerissen. Keiner wollte durch den anderen an das erinnert werden, was geschehen war.
Auch Brigitte hatte regelmäßig abgewehrt, wenn Martin, um sich Luft zu machen, begann, ihr aus dem Libanon oder dem Ogaden zu erzählen. »Verschon mich mit deinen Gräuelgeschichten«, hatte sie jedes Mal gesagt, wenn er wieder davon anfing. Und meist hatte er ihren Wunsch zähneknirschend respektiert. Sie ließ ihn mit seinen Bildern allein. Schützte sich. Wollte seine Schreckensbilder vom Menschen nicht in ihr Inneres lassen. Und trotzdem waren manche davon eingesickert wie Blut in ein helles Stück Stoff, waren Fetzen davon unweigerlich in ihrem Bewusstsein hängengeblieben. So das Antlitz von Ashquar Dawud, einem Mitarbeiter des Beiruter
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