Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Kinder?«
»Äh, ja, eine Tochter«, antwortete Scholten.
»Glückwunsch!«, sagte Kirchner und faltete die glitschige weiße Rosette, die den Fuß des Glases umschloss, zu einer Art Ziehharmonika. »Töchter sind bestimmt was Wunderbares.«
»Ja, eigentlich schon«, sagte Scholten. »Aber Hilda ist geistig behindert, Trisomie 21, Down-Syndrom.«
»Tut mir leid«, fragte Kirchner und stierte in sein Glas.
»Ja, mir auch«, erwiderte Scholten.
»Wie alt?«, sagte Kirchner und dachte: Down-Syndrom? Das sind doch diese Kinder mit den komischen Schlitzaugen und den unförmigen Gesichtern.
»Neunzehn«, sagte Scholten. »Hilda lebt bei mir, seit meine Frau mich vor zwei Jahren verlassen hat.«
Kirchner konnte sehen, wie sich auf dem Hintergrund der dunkelbraunen Augen seines Gegenübers plötzlich sekundenlang schmerzhafte Dinge abspielten.
Irgendwann stieß Scholten, von einem halben Dutzend Gläsern Pils in eine heitere Schweigsamkeit versetzt, Kirchner an und sagte mit ausgestrecktem Arm und Blick auf den Fernseher: »Da! Die Kollegen!«
Kirchner hob seinen Kopf über dem Bierglas und spähte durch einen Nebel aus Übelkeit und Ermattung auf den Fernsehschirm. Er hatte seit Stunden nichts gegessen, in seinem Magen rumorte es.
In großer Ferne konnte er eine Autobahnkuppe erkennen, auf der zahlreiche Fahrzeuge wild durcheinanderstanden, über alle drei Fahrspuren hinweg verteilt. Leute liefen aufgeregt hin und her. Zwei trugen schusssichere Westen. Dahinter, auf einer Brücke, zahllose Gaffer, Fotografen. Fernsehkameras. Und dann trat ein Reporter ins Bild und sagte: »Soeben ist circa 200 Meter von mir entfernt die Geiselnahme von Gladbeck nach 54 Stunden gewaltsam zu Ende gegangen. Auf der A3 in Richtung Frankfurt in Höhe von Bad Honnef hat ein Sondereinsatzkommando derPolizei Köln das Drama nach Einsatz einer Blendgranate und einem heftigen Schusswechsel mit den Geiselnehmern beendet. Die Geisel Silke Bischoff starb dabei durch eine Kugel aus Rösners Waffe. Die A3 wird voraussichtlich bis 15 Uhr gesperrt bleiben.«
Rolf Kirchner ließ den Kopf sinken und schloss die Augen. Nach 10 oder 15 Sekunden machte er sie wieder auf, wandte sich um und spähte, an Scholten vorbei, durch die riesige Panoramascheibe hinaus auf den Parkplatz, wo Autos blitzend in der Sonne standen. Dann hinauf zum Himmel. Er suchte nach ersten Anzeichen von Wolken, nach irgendeinem Zeichen für eine bevorstehende Wetterveränderung. Aber der Himmel war so wolkenlos wie vor fünf oder sechs Stunden. Wie gestern, vorgestern und vor einer Woche. Und genauso leer, wie er sich in diesem Augenblick fühlte. Und sich höchstwahrscheinlich auch in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren fühlen würde, wenn er an diesen 18. August 1988 zurückdachte. Den Tag, an dem Silke Bischoff starb. Weil er es nicht verhindert hatte. Er, Rolf Kirchner.
***
Nachdem sie den Glaser angerufen und ihre Manuskriptseiten eingesammelt, ihr Arbeitszimmer halbwegs wieder in Ordnung gebracht und das verschandelte Baum-Plakat zerknirscht von der Wand genommen und weggeworfen sowie die Sauerei im Klo beseitigt und die Scherben in der Küche aufgekehrt hatte, war Brigitte hinunter in den Keller gegangen und hatte sich erschöpft auf der Matratze ausgestreckt. Neben ihr lag Mariannes Brief.
Sie hatte ihren Entschluss spontan gefasst, ohne lange zu überlegen. Und wie sie nun so dalag und mit geschlossenen Augen auf das gelegentliche Rumoren im Haus lauschte – das Haus atmet, dachte sie, macht Geräusche wie ein schlafendes Tier, das hin und wieder seine Glieder reckt –, spürte sie, wie richtig das war, was sie vorhatte. Marianne hatte sie gebeten zu kommen, und sie war entschlossen, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen.Sie musste, das erschien ihr plötzlich vollkommen einleuchtend, noch einmal zurück in die Vergangenheit, erst dann würde es wieder eine Zukunft für sie geben. Als Schriftstellerin wie als Mensch. Vorher, dessen war sie sich nun ganz sicher, gab es hier nichts für sie zu tun. Sie würde also reisen. Gut.
Gemeinsam mit Martin war Brigitte verschiedentlich herumgereist, war zweimal in Amerika gewesen, in London und Rom und auf dem Balkan. Doch die Reise, an die sie am liebsten zurückdachte, war ein gemeinsamer zweiwöchiger Trip im Juli 1979 nach Norwegen gewesen. Sie hatte die Tage im Norden als Hochzeitsreise empfunden. Denn selten zuvor hatte sie sich Martin so nah gefühlt wie in den Tagen in Oslo und Bergen. Er war weich und offen
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