Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
dürren Gras standen und mit den Köpfen ruckten. Die Monotonie der sanften Braun- und Ockertöne versetzte Brigitte mit der Zeit in ein leichtes Dösen. Ihre Arme wurden schwer, und ihr Kopf sank gegen die Lehne. Verbeulte blaue Schilder mit Ortsnamen wie Viladecan, Castelldefels, Sitges oder Vilanova i la Geltrú tauchten im Seitenfenster auf, nahmen kurz lesbar Gestalt an und blieben hinter ihnen zurück.
Sie dachte wieder an die Zeit zurück, in der sie das Haus nur noch zum raschen Einkaufen verlassen hatte. Sie hatte damals eine Welt ausgeschlossen, die sie nur noch als feindselig und zerstörerisch empfand. Dabei hatte der Feind in ihren Gehirnwindungen gehaust wie giftiges Ungeziefer, zerfraß sie von innen heraus, indem er ihr Bewusstsein so lange mit Gedanken, Bildern und Erinnerungen traktierte, bis am Ende der Anblick einer alten, angeschlagenen Kaffeetasse, aus der Martin einmal getrunken hatte, genügte, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen.
Die Räume hatten sich mehr und mehr in avantgardistische Stillleben verwandelt, ihre alte Ordnung löste sich auf. Überall lagen aufgeschlagene Bücher und Plattencover herum, standen leere oder halbvolle Weinflaschen und Aschenbecher, türmten sich Kleiderberge, zierten zum Trocknen aufgehängte Bettlaken und Handtücher die Zimmertüren. Immer seltener drang aus dem Keller das Brummen der Waschmaschine herauf, dafür war oft spät in der Nacht das dumpfe Klirren von Flaschen zu hören,wenn sie in den Keller hinunterstieg, um die leeren gegen volle auszutauschen.
Endlich schob sich linker Hand das Meer ins Bild, und Brigitte war schlagartig hellwach, geblendet und angezogen vom irisierenden, grüngrauen Glitzern und Leuchten, das die untergehende Sonne auf den leichten Wellen entfachte, die sich in der Ferne eine in der anderen fortpflanzten und wie magisch davon angezogen auf die Horizontlinie zustrebten.
Auf der Höhe von Cubelles las sie erstmals ein Hinweisschild: El Vendrell. Der Wagen kämpfte sich kurz darauf eine langgezogene, baumbestandene Anhöhe hinauf. Brigitte spürte ihr schneller schlagendes Herz.
Die Küste war gesäumt mit im Bau befindlichen sechs- und achtgeschossigen Wohnblöcken, traurigen Ansammlungen bizarrer Steingerippe, die, von der Abendsonne angestrahlt, wirkten wie Skelette urzeitlicher Wesen, deren Seelen vor Jahrtausenden ausgeflogen waren. Nun spukten in ihnen stattdessen die kurzlebigen Geister von Asbest, Stahl und Mörtel.
Der Wagen rollte im weichen Abendlicht an orange leuchtenden Fassaden vorüber, sie bogen ein paarmal rechts und links ab und passierten eine Rambla, auf der Kinder Fußball spielten. In einem Durchlass waren kleine schwach schimmernde Geschäfte auszumachen.
Der Fahrer erzählte von einem Casals-Museum, das sie unbedingt besuchen müsse. In der Avinguda Palfuriana, in Sant Salvador, ganz in der Nähe. Ob Sie den berühmtesten Sohn der Stadt kenne? Den größten Cellisten des vergangenen Jahrhunderts? Pablo Casals?
Brigitte antwortete, Casals sei ihr durchaus ein Begriff. So, sie kenne ihn? Casals’ Vater sei Organist gewesen, erklärte der Fahrer beflissen. Er wisse das, denn er interessiere sich ein wenig für klassische Musik. Gern höre er Schostakowitsch, Brahms und Schubert. Doch am liebsten möge er seinen Landsmann Isaac Albéniz,allem voran dessen berühmten Klavierzyklus Iberia. Einfach wundervoll sei der, er könne nicht genug davon bekommen. Wenn man ihn eines Tages begrabe, solle man El Corpus Christi aus Buch 1 der Suite an seinem Grab spielen.
Sie bogen in die Carrer du Pau Casals ein. Im Haus Nummer 2, erklärte ihr der Fahrer, hätte Casals als Junge gewohnt, irgendwann Anfang des Jahrhunderts, so um 1900. Vor einem blau gestrichenen zweigeschossigen Haus mit der Nummer 16 blieben sie stehen.
Brigitte stieg aus und bat den Fahrer, zu warten, sah hinauf zu den Fenstern im ersten Stock. Das Rolltor der angrenzenden Garage war offen, darin stand ein weinroter staubverkrusteter Fiat 500. In die dreckige Heckscheibe hatte jemand das Wort El Buitre geritzt.
Sie stieß die vergitterte Hoftür auf, die in eine blaue mannshohe Mauer eingelassen war. Wegen der Hitze waren genau wie in allen anderen Häusern auch hier die Rollläden bis auf einen handbreiten Spalt heruntergelassen. Der leichte Wind trug Essensgerüche durch die Straßen. Vom Giebel des Hauses spannte sich eine tiefhängende armdicke Stromleitung zum nächsten und zerschnitt den Himmel in bläuliche Quadrate. In großer
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