Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Kurzzeitgedächtnis immer häufiger den Dienst versagt. Dann wurde sein Gang schlurfend und seltsam breitbeinig, wie der eines zwischen Mondkratern hin und her schwankenden Astronauten. Bis er irgendwann anfing zu halluzinieren und mit Personen zu reden begann, die offenbar nur er sehen konnte.
Trotz allem erschien Marc ihr Verhältnis seltsamerweise tiefer, inniger, auch wenn er sich oft nicht sicher sein konnte, dass der Alte ihn erkannte. Doch wenn er auf einmal verständig lächelte, mit aufgerissenen Augen nickte und die Hände aufgekratzt gegeneinanderrieb, dann war ihm, als springe in einem seit Jahren abgedunkelten Haus plötzlich und ebenso unerwartet das Licht an, das als fadendünner Strahl zwischen den geschlossenen Fensterläden zu ihm herausdrang, und er sprach beglückt weiter, fest davon überzeugt, dass der Alte ihn auf seine Weise verstand.
Gustav Steiner war zu einem Menschen geworden, der mit dem Bankangestellten, der er einmal gewesen war, nichts mehr zu tun hatte. Trotz der Alzheimermedikamente und atypischen Antipsychotika, die man ihm dreimal täglich verabreichte, um die Trugbilder und Wahnvorstellungen, die von seinen Stirnlappen produziert wurden, so gut es ging, in Schach zu halten. Irgendwannhatte er aufgehört, Gustav Steiner zu sein. Die Krankheit hatte einen vollkommen anderen Menschen aus ihm gemacht.
Marc fand seinen Großvater vollständig bekleidet auf dem Bett liegend vor, die Augen wie beim intensiven Nachdenken geschlossen. Diesmal hatte sein Kommen einen besonderen Grund. Marc wollte ihm unbedingt von dem Banküberfall und der anschließenden Geiselnahme erzählen. Vor allem aber von den Gefühlen, die beim Betrachten der Fernsehbilder in ihm ausgelöst worden waren. Er musste einfach mit jemandem darüber reden.
Kurz vor seiner Pensionierung war Gustav Steiner selbst unmittelbar Zeuge eines Banküberfalls geworden. Ein Mann war mit vorgehaltener Waffe und dem Ruf »Überfall!« in die Filiale am Roßmarkt gestürmt. Anschließend hatte er den verdutzten Bankangestellten eine Sporttasche entgegengeschleudert und gerufen: »Vollmachen!«
Ein Passant, der an der Bank vorbeikam und die Szene beobachtete, verständigte geistesgegenwärtig von einer nahen Telefonzelle aus die Polizei. Wenige Minuten später kam es in der Schalterhalle zwischen dem Bankräuber und der Polizei zu einem Schusswechsel, bei dem der Räuber, in Hüfte und Schulter getroffen, vor den Augen der verängstigten Kunden und Bankangestellten, zu denen auch Gustav Steiner gehörte, zusammenbrach, so dass er von der Polizei überwältigt werden konnte.
Die betroffenen Bankangestellten hatte man bei voller Bezahlung für vierzehn Tage vom Dienst freigestellt. Gustav Steiner war fortan bis zu seiner Pensionierung wenige Wochen später nur noch widerwillig und von Angstgefühlen begleitet zur Arbeit gegangen.
Marcs Vater Valentin wollte später sogar einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den damaligen Ereignissen und der plötzlichen geistigen Veränderung seines Vaters erkannt haben und bestand seither aus der gewagten These, der Bankräuber habe seinen Vater auf dem Gewissen.
Der Alte verharrte regungslos. Trotzdem konnte Marc nicht anders, als seine Hand auf die kantige Schulter seines ruhig atmenden und wie im Schlaf gefangenen Großvaters zu legen und ihn sanft zu rütteln und mit gedämpfter Stimme zu sagen: »Großvater? Schläfst du?«
Daraufhin schlug der Alte schreckhaft die Augen auf, starrte Marc überrascht an und murmelte: »Ich habe Durst!«
»Warte, ich hole dir etwas«, sagte Marc und lief zur Spüle, wo er eines der beiden abgewaschenen und verkehrt herum auf der Abtropfe stehenden Gläser nahm, es mit Leitungswasser füllte und dem Alten, der sich unterdessen aufgerichtet hatte, hinhielt.
Interessiert verfolgte er, wie beim Schlucken der Adamsapfel unter der faltig gewordenen Haut am Hals seines Großvaters auf und ab tanzte. Dann streckte der Alte ihm das leere Glas hin und sagte mit leicht zitternder Oberlippe: »Bald kommen sie und holen uns!«
Wochen zuvor hatte der Alte ihm eines Tages zwei gelbe, erbsengroße Tabletten mit den Worten überreicht, er fühle sich seit einiger Zeit merkwürdig müde und warum er neuerdings diese gelben Tabletten nehmen müsse. Die habe er doch bisher nie genommen.
Daraufhin versuchte Marcs Vater herauszufinden, ob die wachsende Müdigkeit seines Vaters etwas mit den gelben Pillen zu tun habe. Als ihm die Stationsleitung eine entsprechende
Weitere Kostenlose Bücher