Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
und von einem herannahenden Tanklastwagen erfasst und, weil sich seine Gürtelschnalle an dem Nummernschild des Wagens verheddert hatte, fast hundert Meter mitgeschleift worden, eheder entsetzte Fahrer seinen Laster auf Höhe des Westbahnhofs endlich zum Stehen brachte. Wandrey war so entsetzlich entstellt gewesen, dass der LKW-Fahrer ohnmächtig geworden war.
Wandrey war 86 und für einen Menschen, der vom Morbus Alzheimer von allen Erinnerungen befreit worden war, erstaunlich rege gewesen. Marc war ihm bei einem seiner letzten Besuche kurz begegnet, als er seinen Großvater zu einem Spaziergang abholte. Der schmächtige Mann hatte ihn durch die Gläser eines schwarzen Fünfziger-Jahre-Gestells hindurch skeptisch angesehen wie jemanden, der sich unerlaubt Zutritt zu ihrer erinnerungsfreien Welt verschaffte.
Auf dem Rückweg vom MASSA-MARKT – Louis war am Morgen nicht zur Arbeit erschienen – hatte Marc in der Hoffnung, dort vielleicht ein paar alte Klassenkameraden zu treffen, die KTM durchgestartet und einen Abstecher in die Milchbar am Freiheitsplatz gemacht.
An der Bar saß wieder der dunkel gekleidete, unrasierte und schätzungsweise fünfzig Jahre alte Mann, der regelmäßig schwarzen Kaffee trank, Gauloises rauchte und dabei Zeitung las oder mit hübschen jungen Frauen über weltpolitische Themen diskutierte. Marc hatte ein paar ihrer früheren Gespräche belauscht und den Mann um sein scheinbar schwereloses Dasein beneidet. In seiner Vorstellung war der Typ Schriftsteller oder Schauspieler oder so etwas, ein Künstler jedenfalls.
Marc gefiel es, in der Milchbar herumzusitzen, mit Waldmeister-, Walnuss- oder Himbeergeschmack aromatisierte Milchshakes zu trinken und sich seine Zukunft auszumalen. Außer dem Künstler und ihm waren nur noch ein junger Asiat und eine Zeitung lesende ältere Frau in der Bar.
Ein paarmal hatte Marc mit dem Gedanken gespielt, den Mann, von dem eine seltsame Faszination ausging, anzusprechen, dann aber jedes Mal nicht den Mut besessen und sein Vorhaben verschoben.
Seit er Camus las, hatte Marc das Gefühl, den Geheimnissen der Welt ein kleines Stückchen näher gekommen zu sein. Mit einem Freund suchte er beim gemeinsamen Anhören der Platten von Klaus Schulze, Tangerine Dream und Eberhard Schöner nach Antworten auf Fragen, die sie quälten, wenn sie nachts im Dunkeln wach lagen. Warum bin ich? Was kommt nach dem Tod? Kann man, ohne zu lügen, überleben? Gibt es ein Schicksal? Und was ist meines? Doch zu mehr als irgendwann ins Phantastische abgleitenden Spekulationen führten ihre Überlegungen nie.
Marc verfolgte die in Richtung Hertie vorbeiziehenden Passanten und musste an die Geiseln denken, die sich noch immer, das hatte er am Morgen im Radio gehört, in der Gewalt der Gladbecker Bankräuber befanden, als plötzlich eine Stimme sagte: »Du bist doch der Enkel vom alten Steiner?«
»Ja«, antworte Marc überrascht, »wieso?«
»Ich habe dich vor ein paar Tagen bei deinem Großvater gesehen. Hat mir gefallen, wie du mit ihm geredet hast. Mein Vater Klaus und dein Großvater waren am Ende fast so was wie Freunde.«
»Ja«, sagte Marc, »das waren sie. Tut mir leid, was mit Ihrem Vater passiert ist. Einfach schrecklich.«
»War wohl nicht zu verhindern.«
Marc konnte sich nur wundern über die Nüchternheit, mit der sein Gegenüber vom grausamen Tod des Vaters sprach.
»Eine teuflische Krankheit, dieses Alzheimer«, sagte Marc.
»Zuletzt hat er mich für seinen Zahnarzt gehalten.«
»Das kenne ich«, sagte Marc, »mein Großvater hat mich schon für alle möglichen Leute gehalten. Meistens hält er mich für einen Pfleger. Ich muss dauernd an diese Geiselsache im Fernsehen denken.«
»Hab’s auch gesehen«, sagte der Mann, faltete die Zeitung, in der er eben noch geblättert hatte, zusammen und legte sie vorsich auf den Tresen. »Mediale Inszenierung von Gewalt! Berichterstattung aus der Teilnehmerperspektive!«
»Sie scheinen sich ja ziemlich gut auszukennen«, sagte Marc beeindruckt.
»Ich war mal Fotoreporter, ist aber lange her«, sagte der Mann, steckte sich eine Zigarette an und ließ den Rauch nachdenklich zwischen den Zähnen hervorwabern.
»Ach ja?«, sagte Marc interessiert.
»1967. Bei der BZ angefangen und so ziemlich alles gemacht, was kam. Unfälle, Politiker, Demonstrationen, Fußball, Prominenz, das ganze Programm. Ich hatte ’ne Menge Spaß. Bis zum Schah-Besuch. Ich war zufällig in der Nähe, als es passierte. Mit Benno Ohnesorg. Ich
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