Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Nervenwachstum anregen sollten, von Plaque lösenden Antikörpern und der Immunisierung gegen Beta-Amyloid-Bildung. Valentin Steiner hatte, während er das Ganze irritiert auf seinem mitgebrachten Notizblick notierte, nicht die leiseste Ahnung gehabt, was das alles zu bedeuten hatte und was sich hinter Worten wie »Amyloid«, »Reminyl« oder»Exelon« verbarg. Musste man inzwischen Freizeitmediziner sein, um überhaupt noch zu kapieren, worum es bei allem ging?
In einem anderen Artikel, den er sich aus einer amerikanischen Ärztezeitschrift herauskopiert hatte, wurde von Tests berichtet, in denen der Frage nachgegangen wurde, ob Fisch, Nüsse und Öldressing, die mehrfach ungesättigte Fettsäuren enthielten, das menschliche Gehirn vor den verheerenden Auswirkungen der Alzheimerkrankheit zu schützen vermochten.
Darüber hinaus gab es Abhandlungen über chemische Wirkstoffe mit Namen wie Motrin, Aleve, Aricept, Memantin, was immer das bedeuten mochte, und ein Hormon namens Ginkgo biloba, dessen Einnahme – so einer der Verfasser – »möglicherweise kraft seiner antioxidierenden Eigenschaften das Risiko von altersbedingtem Gedächtnisschwund vermindern könne«.
Marc bockte die Maschine hoch, zog den Zündschlüssel heraus und nahm den Helm ab. Breit grinsend stand der Großvater in einer Entfernung von vielleicht zehn Metern, die Arme sinnlos ausgebreitet und den Leib seitlich weggebogen, als sei das eine Bein deutlich kürzer als das andere.
»Da bin ich wieder!«, rief er, ging, den leuchtend orangefarbenen Helm in der Hand, auf den Alten zu und legte ihm den Arm um die Schulter. »Komm, wir gehen rein. Es ist so heiß, ich brauche dringend was zu trinken.«
Der Alte ließ sich willig mitziehen. Als sie einander in seinem dämmrig-kühlen Zimmer gegenübersaßen und Marc in kleinen Schlucken das kalte Mineralwasser trank, klatschte Gustav Steiner kindlich in die Hände, so wie er das jedes Mal tat, wenn ihn etwas freudig erregte. »Mein Junge«, rief er. »Oh, mein Junge. Wir werden gewinnen.«
Der Großvater trug ein verschossenes kurzärmliges Hemd, das einmal blau gewesen sein musste, dazu eine fleckige graue Hose, die auf Höhe des Bauchnabels, weit über der Hüfte, von einem speckigen braunen Kalbsledergürtel gehalten wurde undden irritierenden Eindruck erzeugte, als sei sein Oberkörper im Vergleich zum Rest des Körpers zu kurz geraten. An seinem linken Handgelenk glänzte im schräg einfallenden Licht das goldfarbene Stretchband seiner Uhr. »Tee?«, fragte er unvermittelt, »möchtest du eine Tasse Tee, Junge?«
»Nein danke, Großvater«, erwiderte Marc. »Wasser ist gut.« Dabei ertastete er plötzlich den knochenharten Popel an der Unterseite der Sessellehne, auf der eben noch entspannt sein Arm gelegen hatte, und zog seine Hand ruckartig zurück.
Der Alte hatte irgendwann angefangen, überall schamlos seinen getrockneten Nasenschleim hinzukleben: unter die Ränder der Tischplatte, auf die Tastatur seiner TV-Fernbedienung, an Gläser und Tassen. Oder er schmierte die schmierigen Klümpchen einfach, wo er gerade saß oder stand, an die Wand, wo sie – an totgeschlagene Mücken erinnernd – so lange haften blieben, bis sie irgendwann herunterfielen, an den Sohlen seiner Hausschuhe haften blieben und er, angesichts der rasch anwachsenden Menge, bald das irritierende Gefühl hatte, in seinem Zimmer über kleine Kieselsteinchen zu laufen.
Anfangs hatte Marc sich geärgert, wenn er auf eines der da oder dort dreist deponierten Schleimkügelchen stieß und es womöglich unfreiwillig berührte, und seiner Abscheu mit Gemecker Luft gemacht. Doch inzwischen nahm er die kleinen Sauereien, die der Alte veranstaltete, nur noch wortlos zur Kenntnis.
Sein Vater und er hatten die Informationen, die sie über die Erkrankung des Großvaters fanden, durchgesprochen, doch die Krankheit war ihnen immer einen Schritt voraus. Denn als sie endlich begriffen, was Demenz bedeutete, nämlich dass sich das Leben, und mit ihm seine Erinnerungen daran, immer ein bisschen mehr aus dem Alten zurückziehen würde, da behandelte er sie bereits wie Eindringlinge, die sich unerlaubt Zugang zu seinen Räumen verschafften. Obgleich er ihnen nur wenige Minuten zuvor eigenhändig die Wohnungstür geöffnet hatte. Dannwieder erinnerte er sich an die Dinge, die sie beide längst vergessen hatten, und versetzte sie in Erstaunen.
»Er wird uns verlassen«, hatte sein Vater tröstend zu Marc gesagt, der sehr an seinem Großvater
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