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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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hing. »So wie ein Schiff, das langsam am Horizont verschwindet. Wir werden ihn weiter deutlich sehen, aber für ihn werden wir immer mehr zu Gestalten im Nebel. Alles wird immer undeutlicher, unklarer für ihn und am Ende ganz verschwinden. Am schlimmsten ist, dass er ein ganz anderer Mensch werden kann.«
    Es hatte damit angefangen, dass Gustav Steiner Termine vergaß, Telefonnummern nicht behalten konnte oder durcheinanderbrachte und begann, Ereignisse und Namen von Leuten, die er kannte, zu verwechseln. Und irgendwann kam er schließlich auch mit der Rechtschreibung durcheinander. Er merkte, wenn ein Wort falsch aussah, konnte sich aber an die korrekte Reihenfolge der einzelnen Buchstaben nicht mehr erinnern.
    »Die Psychiatrie kann mich mal und die Mediziner erst recht«, hatte er geblafft, als Valentin ihn eines Tages, weil sie seine Aussetzer nicht länger ignorieren konnten, gebeten hatte, sich untersuchen zu lassen. »Die können mir mit ihren Wundermittelchen gestohlen bleiben, und ich werde mir auch nicht den Schwachsinn von irgendwelchen jungen Leuten anhören, die höchstens halb so alt sind wie ich. Ich habe im Zweiten Weltkrieg in Russland gekämpft, habe zwei Blutvergiftungen, einen Motorradunfall und einen Hornissenstich überlebt. Also, wieso zum Teufel sollte ich jetzt kapitulieren, bloß weil ich manchmal etwas nicht mehr behalte? Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.«
    Damit war das Thema für ihn erledigt gewesen. Als die Diagnose, nachdem er sich schließlich zu einer Untersuchung hatte überreden lassen, feststand und sein Sohn über Monate hinweg einmal in der Woche mit ihm zur Gedächtnistherapie ging, konnte er sich an seinen anfänglichen Widerstand schon nicht mehr erinnern.
    Früher hatte Marc einmal gedacht, das Leben älterer Menschen vergehe langsamer, der Monotonie ihres ereignislos gewordenen Alltags ausgeliefert, dessen einzige Sensationen das Auftreten irgendwelcher unbedeutender Wehwehchen in diesem oder jenem Körperteil waren. Doch nun sah er bei jedem seiner regelmäßigen Besuche mit wachsender Bestürzung, mit welchem Tempo sein Großvater in Wahrheit dem Verlöschen entgegenraste.
    »Zwei Typen haben gestern in Gladbeck eine Bank überfallen und Geiseln genommen«, sagte Marc.
    »Was ist?«, erwiderte der Alte und legte seinen Schädel schräg, wie um dadurch besser zu hören.
    »Bankräuber, Großvater!«, rief Marc nun lauter. »Zwei Männer haben gestern bei einem Banküberfall Geiseln genommen und sind gemeinsam mit denen in dem Wagen, den die Polizei ihnen zur Verfügung gestellt hat, abgehauen!«
    »So was«, entfuhr es dem Alten, anschließend holte er tief Luft, als wolle er zu einer längeren Erklärung ansetzen. Doch dann sagte er nur: »Ich kannte mal einen, der bei einer Bank gearbeitet hat. Den haben sie auch mal überfallen.«
    »Das bist doch du selbst gewesen, Großvater!«, rief Marc. Daraufhin sah der Alte ihn ungläubig an, biss sich kurz auf die Unterlippe und sagte: »Ach so?«
    »Hast du das etwa vergessen?«
    »Nein, nein«, erwiderte der Alte scheinbar ungerührt. Marc konnte sehen, wie er seinen Irrtum zu überspielen versuchte. Und plötzlich lief dem Alten ein Schwall Blut übers Kinn.
    »Aber du blutest ja!«, rief Marc und deutete auf das lautlos bebende Kinn des Alten. »Da, am Kinn!«
    »Was ist?«, erwiderte der Großvater und sah ihn überrascht an. Inzwischen tropfte das Blut auf seine Brust und verursachte kleine, kreisförmige Flecken auf dem blauen Stoff.
    »Du blutest am Kinn, Großvater!«, wiederholte Marc nunlauter, sprang auf und riss ein Blatt von der neben der Spüle liegenden Papierrolle. »Deine Lippe ist aufgeplatzt! Schnell! Hier, nimm!«
    So bedächtig wie ein Roboter, der zielgerichtet seinen über langsam schwächer werdende Batterien gesteuerten Arm ausfährt, ergriff der Alte das Papier, packte es und presste es mechanisch gegen seine Lippe.
    »Du musst fester dagegendrücken«, sagte Marc, der glaubte sehen zu können, wie es in dem Alten arbeitete.
    Doch der nahm das Papier plötzlich herunter, öffnete den Mund zu einem breiten blutigen Grinsen und sagte: »Ich habe … also, ich habe …«, setzte von neuem an und sagte schließlich: »Ich habe Lust auf ein Stück Kirschkuchen. Du auch, Valentin?«
    Marc überlegte kurz, dann antwortete er: »Ja, warum eigentlich nicht. Ich hol uns welchen im Café Schien! Bin gleich wieder da.« Er nahm seinen Helm und verließ die kleine dämmrige Etagenwohnung.
    Als er auf

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