Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Player aus der schwarzglänzenden Schachtel und klemmte sie sich, ehe sie den Hörer abnahm und wählte, zwischen die Lippen.
Das Telefon war ihre letztverbliebene Verbindung zur Außenwelt. Seit sie aufgehört hatte, Zeitung zu lesen, Radio zu hören und fernzusehen, drang das, was sich jenseits ihrer vier Wände ereignete, inzwischen mehr oder weniger ausschließlich per Telefon an ihr Ohr.
Brigitte war das, was man einen Telefonjunkie nennen würde. Stundenlang konnte sie mit ihrer amerikanischen Freundin Marilyn, einer ehemaligen PANAM-Stewardess, nach Florida telefonieren. Oder sie sprach, noch im Schlafanzug auf dem vollgeaschten Bett hockend und umgeben von wahllos verteilten Manuskriptseiten, mit Helga, blies Rauchwolken in die Luft und notierte Anmerkungen, während sie den Hörer zwischen Schulter und Hals eingeklemmt hielt.
Und dann war da noch Valentin, ihr in Hanau lebender Stiefbruder, den sie nicht, wie so viele andere, nach Martins Ableben von ihrer Liste gestrichen hatte. Das letzte Telefonat mit ihm lag allerdings auch schon wieder ein halbes Jahr zurück.
Nach der Trennung ihrer Eltern vor mehr als 20 Jahren hatten sie bald den engeren Kontakt zueinander verloren. Trotzdem empfand sie für ihn eine gewisse Dankbarkeit und griff gelegentlich zum Hörer, um sich nach seinem und dem Befinden ihres Stiefvaters zu erkundigen. Anders als sie, die nach der Schule – sie hatte sich damals strikt geweigert, das Abitur zu machen, und sich stattdessen mit ihrem fast 20 Jahre älteren Freund nach St. Tropez abgesetzt – sofort aus Hanau weggegangen war, hatte Valentin nie einen Gedanken an einen Weggang verschwendet und vor allem später, als ihr Stiefvater Hilfe brauchte, Verantwortung übernommen.
Brigitte mochte ihren Stiefvater – ganz im Gegensatz zu ihrem leiblichen und bald verstorbenen Vater. Zu Valentin, der zwei Jahre älter war als sie, hatte sie stets ein gutes Verhältnis gehabt. Auch wenn sie nie ganz zu Valentin durchgedrungen war, der ganz in seiner nach Schmieröl riechenden Welt der Motoren,Kreissägen und Lötkolben lebte, seit er nicht mehr in Offenbach als Modellbauingenieur Plexiglasminiaturen von Hochöfen und Hebekränen konstruierte.
Einmal nach einer Lesung in einer Hanauer Buchhandlung hatte Valentins Sohn Marc plötzlich überraschend vor ihr gestanden und sie hinterher beim gemeinsamen Gang mit dem Buchhändler und einigen ihrer Fans in ein Lokal begleitet. Ein junger Mann mit goldblonden Haaren, weichen Gesichtszügen und wachsamen grünbraunen Augen, der wie eine Kopie seines Vaters in jüngeren Jahren auf sie gewirkt und sie damals mit dem Bekenntnis verblüfft hatte, noch nie ein Buch gelesen zu haben.
Als sie ihm spontan das Exemplar ihres Romans, aus dem sie noch kurz zuvor Hunderten von Zuhörern vorgelesen hatte, hinstreckte und sagte: »Dann fang hiermit an«, da hatte Marc ihr Geschenk freundlich lächelnd zurückgewiesen und geantwortet: »Danke, aber das ist nichts für mich.«
Im ersten Moment war sie gekränkt, doch der Zuspruch der ins Restaurant gefolgten Zuhörer war während des anschließenden Essens derart einhellig, dass sie nicht bemerkte, wie Marc ihre kleine Runde irgendwann, ohne sich von ihr zu verabschieden, verlassen hatte.
Anfangs verunsicherten Brigitte, die sich jahrelang mit durchschnittlichen Eigenkreationen als Goldschmiedin durchschlug, die herablassenden Kommentare, die ihre Bücher bei der Kritik provozierten, und stürzten sie – insbesondere nach einem herben Verriss des zweiten Mireille-Romans »Vanilleträume« in einer großen Frankfurter Tageszeitung – in eine Schreibkrise.
Erst Helgas Nachricht, »Vanilleträume« werde in Kürze die Bestsellerliste des »Spiegel« erobern, brachte Brigitte an den Schreibtisch zurück.
Sie setzte ihre Zigarette in Brand, nahm einen kräftigen Zug, hob den Telefonhörer ab und wählte die Nummer in Hanau.
»Steiner?«, erklang nach dem dritten Läuten Valentins Stimme.
»Wie geht es euch?«, sagte Brigitte und blies den Rauch ihrer Zigarette an der Muschel vorbei, was im Ohr ihres Bruders als trockenes Schnarren ankam.
»Marc ist bei Vater«, sagte er, »dabei hat er wegen dieser Geiselsache die halbe Nacht vor dem Fernseher verbracht. Ich verstehe gar nicht, was ihn daran so fasziniert.«
»Wahrscheinlich das Morbide«, sagte Brigitte. »Die jungen Leute haben ein viel ungebrocheneres Verhältnis zur Gewalt als wir damals. Sie fühlen sich vom Unglück angezogen. Es ist wie eine
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