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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Fäulnis, die ihre Gedanken befällt. Wie geht es Vater?«
    »Was soll ich sagen, Brigitte«, antwortete Valentin und atmete schwer ein und wieder aus. »Er verschwindet. Manchmal kommt er mir vor wie ein Besucher von einem anderen Stern, der unsere Sprache nicht versteht und wie ein Kleinkind alles bestaunt.«
    »Das klingt unschön«, sagte Brigitte, zog kräftig an ihrer John Player und blies, indem sie ihre Lippen zu einem O formte und stoßartig ausatmete, kleine graue Rauchringe in die Luft, die sekundenlang wie Satelliten um die tiefhängende Deckenlampe kreisten, ehe sie sich aufzulösen begannen. In den schmalen Lichtfächern, zu denen das Sonnenlicht von den Holzrippen des Rollladens zerteilt wurde, tanzten winzigste Staubpartikel.
    »Und wie geht es dir?«, sagte sie.
    »Komm uns doch mal wieder besuchen, Brigitte. Mit dem Zug bist du in zwei Stunden hier. Marc kann dich vom Bahnhof abholen.«
    »Ich sitze an einem neuen Buch, Valentin, aber ich überleg’s mir«, sagte sie und beobachtete fasziniert, wie der letzte Rauchring sich auflöste.
    »Wie du meinst, Brigitte!«, antwortete er. »Ich kann dich schließlich nicht zwingen.«
    »Nein«, sagte sie und zog wieder an der Zigarette. »Niemand kann das!«
    ***
    Bis zu ihrem Dienstantritt blieb ihr nicht einmal mehr eine Stunde. Nachdem sie sich auf dem Marktplatz getrennt hatten (sie hatten noch ihre Nummern ausgetauscht, und Adam hatte versprochen, sich in Kürze zu melden), rief Chris ihre Freundin Ulrike von einer Telefonzelle aus an und verschob ihren Besuch auf einen der nächsten Tage. Anschließend lief sie in eine Apotheke und verlangte ein Beruhigungsmittel. Denn trotz der schönen und völlig unerwarteten Begegnung mit dem polnischen Busfahrer wuchs die Unruhe in ihr.
    »Irgendetwas gegen so ein blödes Unruhegefühl!«, sagte sie und nestelte verlegen an ihrer Handtasche, als müsse sie sich für ihre Gefühle schämen. Die Apothekerin fixierte sie einen Moment lang intensiv, drehte sich um und entnahm einem der alphabetisch gekennzeichneten Rollfächer des nussbaumfarbenen Apothekerschranks eine weiße, rechteckige Packung. »Baldrian, das ist pflanzlich, hilft aber ganz gut. Für alles andere bräuchten wir leider ein Rezept. Macht sechs neunzig.«
    Chris konnte von ihrem Platz aus sehen, wie die Schublade im Zeitlupentempo in das Schrankfach zurückglitt, und bekam eine Gänsehaut. In den Krimis, die sie sich manchmal spätnachts ansah, glitten auf ähnliche Weise die herausgezogenen Metallbahren, auf denen unter hellen Tüchern die nackten Toten lagen, in die Kühlfächer zurück. (Sekundenlang sah sie sich selbst auf einer solchen Bahre liegen und in einem solchen Fach für immer verschwinden.)
    »Okay!«, sagte sie leicht verwirrt, legte einen Zehnmarkschein auf den Tresen und wartete ungeduldig auf die Rückgabe des Wechselgeldes.
    »Wenn Sie so etwas öfter haben, sollten Sie es vielleicht mal mit Entspannungsübungen versuchen. Autogenes Training zum Beispiel. Das hilft«, sagte die Apothekerin in ruhigem, freundlichem Ton und reichte Chris die Münzen samt Kassenbon. Auf dem kleinen pastellfarbenen Namensschild über ihrer linkenBrust stand in dunklen Druckbuchstaben: »Anette Ahrens. Altstadt-Apotheke.«
    »Ja, mal sehen«, antwortete Chris, bedankte sich und schob fahrig die Packung in ihre Handtasche. Dann wandte sie sich ruckartig um, lief mit einer flüchtig gemurmelten Verabschiedung hinaus in das gleißende Mittagslicht und dachte: Was gäbe ich jetzt für eine Valium.
    Ihre Mutter, die inzwischen mit einem Bauunternehmer in München zusammenlebte und einen Großteil des Jahres in dessen Finka auf Mallorca zubrachte, hätte sich einmal (Chris war damals fünfzehn Jahre alt gewesen) beinahe mit einer Handvoll Valium das Leben genommen. Chris hatte sie eines Nachts auf dem Fußboden des Badezimmers gefunden, im Ausguss des Waschbeckens hatten von der Feuchtigkeit zu körnigen Klumpen geblähte Pillen gelegen, auf dem Beckenrand daneben das offene gelbe Röhrchen.
    Der reglose Körper (beide Arme in sich verdreht und das kräftige Becken seitlich weggestreckt) wirkte in dem dämmrigen Licht, das die kleine Wandleuchte erzeugte, wie eine zu Boden gegangene Schaufensterpuppe. Wäre nicht plötzlich, nachdem Chris sie heftig gerüttelt und mit einem entschlossenen Griff unter beide Achseln angehoben hatte, ein jäher Impuls durch den Leib gegangen und ein weißlicher Schwall aus ihrem halbgeöffneten Mund herausgeschossen. Wie ein

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