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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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ich …« Wie eine Figur in einem Comicfilm deutete Bertram mit einer übertriebenen Geste seiner linken Hand auf den Hörer an seinem Ohr.
    »Kommen Sie?«, sagte Maibach in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, und entfernte sich.
    »Äh, ja«, sagte Bertram leicht gestresst und wandte sich nun wieder Amina zu. »Es ist sicher alles halb so schlimm, glaub mir.«
    »Komm bitte schnell, ja?«, erwiderte Amina.
    Bertram beobachtete, wie Maibach die Glastür zu seinem Büro aufstieß. Sekundenlang fühlte er sich wie eine Lunte, die an beiden Enden zu brennen begann.
    »Ja, ja, ich beeil mich«, hauchte er in den Hörer und schickte ein gehetztes »Ich liebe dich« hinterher, legte auf, lief zu Sylvia und sagte mit wie zum Beten vor der Brust gefalteten Händen: »Du musst mir helfen! Was weißt du über diese Geiselsache? Nur das Allerwichtigste. Komm schon, na los.«
    Nachdem Sylvia ihn im Schnelldurchlauf auf den Stand der Dinge gebracht hatte, Überfall zweier vielfach Vorbestrafter auf eine Deutsche-Bank-Filiale in Gladbeck-Rentfort, anschließende Flucht mit zwei Geiseln in Richtung Norden in einem von der Polizei zur Verfügung gestellten weißen Audi, Telefoninterview der Geiselnehmer mit einem Nürnberger Lokalradio, ungewöhnlich hohes Journalistenaufkommen vor Ort, Ankunft des Wagens am Morgen in Bremen, betrat Bertram Maibachs Büro.
    »Ich will, dass Sie sich an die Sache dranhängen«, sagte Maibach, »und wenn ich sage dranhängen, dann meine ich das auch so, klar? Wer weiß, womöglich kommen diese Irren ja wieder hierher zurück. Sollte das der Fall sein, krallen Sie sich Montano und hängen sich dran!«
    »Ist gut«, antwortete Bertram, »mach ich!«
    »Noch Fragen?«, sagte Maibach, der ihn bereits von seinem inneren Schirm gelöscht zu haben schien.
    »Nein«, antwortete Bertram, »nein.« Dann verließ er das Büro.
    Bertram schlich zum Fernschreiber, der sich am östlichen Ende des Großraumbüros in einer eigens dafür eingerichteten verglasten Kabine befand, und riss sich die neuesten Agenturmeldungen ab. Warum nur musste er jedes Mal an bedrucktes Toilettenpapier denken, wenn er die sich manchmal in langen Papierschlangen vor dem Fernschreiber auf dem Boden windenden Tickermeldungen sah? Eine Welle aus Schmerz und Furcht um seinen kleinen Sohn überfiel ihn.
    Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Bertram, der noch immer am Fernschreiber stand und die Papierbahn in der Hand hielt, hob erschreckt den Kopf. Mit wütender Dringlichkeit wehten die Klingeltöne zu ihm herüber.
    »Jaaaa, was ist denn?«, rief Bertram, der die meterlange Papierbahn auf dem Weg zu seinem Schreibtisch wie eine Schleppe hinter sich hergezogen und sich beinahe darin verheddert hatte, genervt in den Hörer.
    »Sie müssen ihn operieren!« Amina war noch aufgeregter als bei ihrem ersten Anruf. »Sie sagen, der Darminhalt staut sich in seinem Bauch. Ein Eingriff ist offenbar unumgänglich. O mein Gott, Thomas. Ich hab solche Angst.«
    Von einer plötzlichen Schwäche erfasst, als hätten seine Nebennieren schlagartig ihre Tätigkeit eingestellt, sank er auf seinen Stuhl: »Das kann doch nicht sein.« Dabei trat er so lange ungestüm nach der sich vor ihm auf dem Boden bauschenden Papierbahn, bis im Umkreis von einem Meter weiße Fetzen herumlagen.
    »Außerdem ist da ja auch noch die Infektion«, sagte Amina. »Warum kommst du denn nicht endlich?«
    »Wann wollen sie operieren?« Bertram beobachtete, wie Sylvia ihr Haar zurückwarf und den Raum verließ.
    »Bald. Ich weiß nicht. Vielleicht sofort«, antwortete Amina nun in dem ruhigen kontrollierten Tonfall, in dem sie ihm früher regelmäßig Verabredungen abgesagt hatte. »Die Ärztin hörte sich besorgt an.« Auf einmal wirkte Amina erstaunlich gefasst, als formierten sich bereits übermenschliche Kräfte in ihr, die das Sterben ihres Kindes nicht zulassen würden.
    »Ich mach mich sofort auf den Weg«, sagte Bertram, legte den Hörer auf die Gabel und sank auf die Knie, um die Papierfetzen einzusammeln. Was für eine beschissene Perspektive, dachte er, unter dem Tisch hervorschielend. Er nahm seinen Walkman aus der Schreibtischschublade, klebte Sylvia, die von seiner Vaterschaft und den damit verbundenen Problemen nichts wusste, ein Post-it (»Bin in der Geiselsache unterwegs und in zwei bis drei Stunden wieder da«) auf den Schreibtisch und verließ das Büro.
    ***
    Lokale Durchblutungsstörungen hatten zu einer nekrotisierenden Enterokolitis geführt.

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