Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
füllten, der Wasserspiegel dramatisch anschwoll und die Wassermassen rauschend und sprudelnd früher oder später auf den Teppichboden schwappten und sich schließlich in Wellen in die Lobby ergossen und das Empfangsdesk umspülten, hatte er sich vor Genugtuung nicht mehr eingekriegt.
Daran musste Brigitte beim Anblick des mit seinem vollgeladenen Einkaufswagen vor ihr stehenden und von der Statur her dem Mann im Central Park nicht einmal unähnlichen Fremden wieder denken. Und als böte sich ihr nach all den Jahren endlich die Chance, ihr damaliges Fehlverhalten wiedergutzumachen, stellte sie den Spaten zurück an die Wand und sagte: »Kommen Sie mit!«
Sie führte den Fremden am Haus vorbei in den großen, rechts und links von mannshohen immergrünen Ligusterhecken begrenzten Garten, deutete auf den von einer dichten Blutbuche beschatteten Swimmingpool, auf dessen blauschillernder Wasseroberfläche vereinzelt Blätter trieben, und sagte mit Blick auf die Brause: »Da können Sie von mir aus duschen. Ich hole Ihnen ein Handtuch und ein Stück Seife.«
***
»Zwodoppelvier, bitte melden«, quäkte es aus der Funksprechanlage. »Zwodoppelvier an Zentrale.«
Auf der Rückbank stöhnte eine ältere Frau, die gestürzt war und sich wahrscheinlich die rechte Hand gebrochen hatte. Ihre Tochter redete beruhigend auf sie ein.
Chris war auf dem Weg ins Rotes Kreuz Krankenhaus am St.-Pauli-Deich. Sie überquerten, vom Rathaus kommend, die Wilhelm-Kaisen-Brücke in Richtung Flughafendamm.
»Zwodoppelvier an Zentrale, was gibt’s?«
»Sie sollen Ihren Vater anrufen. Sofort.«
»Meinen Vater?«, erwiderte Chris überrascht.
»Danke, Zwodoppelvier an Zentrale«, sagte Chris und schaltete sich ab. Von hinten erklang wieder das Stöhnen der Verletzten.
»Wir sind gleich da«, sagte Chris mit Blick in den Rückspiegel. Über den Leibnizplatz hinweg ging es in die Osterstraße, von wo aus zwischen den rostbraun geklinkerten Häuserblocks bereits das weiße Krankenhausgebäude mit dem weithin sichtbaren Schornstein zu sehen war. »Nur noch ein paar Meter, dann haben Sie es geschafft.«
Nachdem sie die beiden Frauen an der Pforte abgesetzt hatte, wählte Chris in einer der offenen Telefonkabinen im Innern der Eingangshalle die neunstellige Nummer ihres Vaters in Oldenburg.
»Dein Vater gefallen Kellertreppe«, sagte Wanda im lässigen Tonfall der Kariben. »Wollte große Kiste Nueces de Macadamia, bei Tengelmann gekauft, in Keller bringen, er hat Gleichgewicht verloren, ist gefallen. Kellerboden voll mit Nueces! Dios, mio! So viele Nueces, uberall!«
»Und wie geht es ihm? Ist er verletzt?«, unterbrach Chris ihre Ausführungen, denn, ja, Herrgott noch mal, sie wusste von der Leidenschaft ihres Vaters für Macadamianüsse, wusste aus zahllosen seiner weitschweifigen Lobpreisungen, dass man sie die »Königin der Nüsse« nannte, dass sie gut fürs Herz und die Gefäße seien und dass die Macadamianuss von allen Nüssen das meiste Eiweiß enthalte.
»Ich habe ihn in Sessel gelegt«, sagte Wanda.
»Du hast was?«, rief Chris.
»Er wollte so!«, verteidigte sich Wanda. »Er sagt, ich soll in Sessel helfen, er will das Haus nicht verlassen, kein Krankenhaus! Okay, Leo esta herida. Aber nicht so schlimm. Er sagt, ich dich anrufen. Du sollst kommen!«
»Ist er verletzt? Hat er sich was gebrochen?«, rief Chris noch einmal.
»Sagt nichts. Liegt in Sessel und guckt an Decke. Aber Kellerboden mit Nueces uberall, Dios mio! Uberall! Viel Arbeit.«
»Ruf einen Arzt, sofort, hörst du, Wanda? Einen Arzt! Ist er bewusstlos?«, rief Chris energisch und beobachtete, wie ein mit einem weinroten Bademantel bekleideter Mann in Hausschuhen an ihr vorbeilief und dabei einen Infusionsständer, an dem ein Beutel mit irgendeiner hellen Flüssigkeit hing, hinter sich herzog. »Vielleicht hat er innere Verletzungen.«
»Wenn du willst. Arzt teuer.«
»Wie konnte das nur passieren?«, sagte Chris und blickte dem Alten mit dem Infusionsständer hinterher.
»Nueces de Macadamia schuld. Leo wollte in Keller bringen«, sagte Wanda.
Blöde Kuh, dachte Chris. »Sag ihm, dass ich morgen komme. Und ich melde mich später noch mal. Aber jetzt rufst du auf der Stelle einen Arzt. Hörst du, Wanda? Einen Arzt, also mach schon!«
»Sí, sí«, antwortete Wanda mit zermürbender Trägheit. Dann legte sie auf.
Leo Mahler hatte seinen Lebensmittelpunkt irgendwann unter die Erde verlegt, hinunter in den von ihm selbst ausgebauten Keller, wo er die
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