Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
geworden. Die Gangster befinden sich mit den Geiseln in einer Querstraße, etwa zweihundert Meter von hier entfernt. Ich habe den Eindruck, dass der Polizei alles egal ist. Jeder kann hier tun, was er will.«
Kirchner drückte den Off-Button der Fernbedienung, worauf sich die Mattscheibe des Fernsehers schlagartig verdunkelte. Dann warf er die kleine Plastikkonsole in hohem Bogen auf die Couch. Ein paar Sekunden verharrte er reglos und lauschte auf die Geräusche aus der Diele. Die Standuhr auf dem Sideboard zeigte 18 Uhr 56.
Er hatte es am Ende nicht mehr in seinem Büro in der Polizeiwache in der Markgrafenstraße ausgehalten und war regelrecht von dort geflohen. Er hasste es, herumzusitzen und nichts zu tun. Die Gedanken fuhren Karussell in seinem Kopf, und aus der Untätigkeit wurde früher oder später Aggression. Gegen die Kollegen und irgendwann auch gegen sich selbst.
Inzwischen waren die Geiselnehmer anderthalb Tage mit ihren Geiseln unterwegs, und den Kollegen vom MEK-Münster, die am Vortag übernommen hatten, war bislang nicht mehr eingefallen, als ihnen in sicherem Abstand zu folgen. Dazu all die sensationshungrigen Journalisten, die vor der Story ihres Lebens standen und ihnen das eigene zusätzlich schwermachten.
Bei der Vorstellung, dass irgendwo in Gladbeck Angehörige der Geiseln vor dem Fernseher saßen und fassungslos mitansehen mussten, wie die Polizei versagte und das Ganze sich in ein wildes TV-Spektakel verwandelte, schämte er sich, Polizist zu sein und nicht am Tag zuvor in Gladbeck gegen alle Befehle der Einsatzleitung auf eigene Faust gehandelt zu haben.
»Hallo Liebling«, erklang Barbaras helle, freundliche Stimme aus der Diele, und Kirchner wandte den Kopf in ihre Richtung.
Als junger Sonderermittler des LKA Nordrhein-Westfalen hatte er nach wilden Verfolgungsjagden in ihren gewaltsam gestoppten und völlig demolierten Fluchtfahrzeugen blutüberströmteeingeklemmte Männer gesehen. Oder den gebrochenen Blick eines per Kopfschuss hingerichteten türkischen Drogendealers. Eine halb totgeschlagene, anschließend aus dem fahrenden Auto gestoßene ukrainische Prostituierte bei Gelsenkirchen, die er aus dem Straßengraben gezogen hatte, erschütterte ihn damals ebenso wenig wie der Anblick einer nach Tagen aus der Ruhr gefischten Männerleiche. Denn als er sich als junger Mann nach abgeleistetem Wehrdienst und reiflicher Überlegung dazu entschlossen hatte, zunächst die Polizistenlaufbahn und dann die des Sonderermittlers einzuschlagen, da hatte er gewusst, dass so etwas früher oder später auf ihn zukommen musste. Und auch vor Schwerverletzten und womöglich sogar Toten nach Schüssen aus seiner Dienstwaffe in Ausübung seiner Pflicht hatte er sich nicht wirklich gefürchtet, auch wenn er immer gehofft hatte, dass es nie so weit kommen würde. Bis zuletzt hatte Rolf Kirchner jene besondere, ihn antreibende Kraft gespürt, die in der ihm übertragenen Verantwortung und seinen damit verbundenen, ganz besonderen Möglichkeiten als SEK-Mann lag.
Doch als er tags zuvor nach Stunden nervenaufreibender Auseinandersetzungen in seinen Privatwagen gestiegen und weggefahren war, da hatte er zum ersten Mal die Begrenztheit seiner Möglichkeiten gespürt. Man hatte ihn einfach nach Hause geschickt, gedemütigt und beiseitegeschoben. Und genauso fühlte er sich immer noch, auch wenn seitdem fast 24 Stunden vergangen waren. Denn die Geiseln waren weiterhin in der Gewalt der beiden Gangster, und er allein hätte es in der Hand gehabt, es nicht so weit kommen zu lassen.
Barbara legte ihm von hinten zärtlich ihre Arme um den Hals. Und er schloss die Augen.
8
dpa – Basisdienst, Hamburg
Flucht eins – Gangster auf der Flucht –
Geiseln offenbar im Auto
Gladbeck (dpa) – Die Polizei, die den Tatort weiträumig abgeriegelt hatte, ließ die beiden Verbrecher mit den Geiseln ungehindert in dem bereitgestellten Fluchtwagen abziehen.
Mit dem BMW, den sie sich bei einer Delmenhorster Autovermietung namens »Hansa« besorgt hatten, fuhren sie nach einem Abstecher über die B 6 in Richtung Nienburg wieder nach Bremen Zentrum, wo Marion Verwandte besaß und als Mädchen eine Zeitlang die Grundschule besucht hatte.
Als Jugendliche träumte Marion davon, Diätköchin zu werden, und machte nach der Sonderschule eine Lehre in einer Metzgerei. Aber dann wurde sie mit zwanzig schwanger, und ihr Leben nahm über Nacht eine andere Richtung. Als ihre kleine Tochter Leila geistig behindert zur Welt kam, war
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