Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
meiste Zeit schräg gegenüber der mit seinen Foto- und Kriegspostkartenalben beladenen Tischtennisplatte in seinem altenglischen, mit orangebraunem Longlifeleder bezogenen Clubsessel saß, den er eigenhändig und gegen alle Vernunft aus dem Wohnzimmer dort hinuntergeschafft hatte und in dem er Radio hörte, die Nordwest- oder die Oldenburgische Volkszeitung las oder vor sich hindöste.
Chris stellte sich vor, wie ihr Vater angeschlagen in seinem Sessel lag, während Wanda auf allen vieren auf dem Boden um ihn herumkroch und unter Schränken und Truhen grimmig nach von ihr übersehenen Nueces de Macadamia Ausschau hielt.
Sie überlegte, ob sie ihre Mutter in München-Bogenhausenanrufen sollte, verwarf die Idee aber sofort wieder. Seit sie an der Seite ihres neuen Lebensgefährten Wiener Opernbälle besuchte und ihre alte Oldenburger Dreizimmerwohnung gegen eine komplett sanierte, alarmgesicherte 300-Quadratmeter-Behnisch-Villa im 13. Münchner Stadtbezirk eingetauscht hatte, war ihr das Befinden ihres zunehmend misanthropischen und neuerdings riesige Mengen hochkalorischer Silberbaumgewächsfrüchte vertilgenden Exmannes zweifellos gleichgültig.
Chris hatte ihre Mutter schon damals, als sie noch gemeinsam unter einem Dach lebten, dafür verachtet, wie schamlos und für alle Welt sichtbar sie nach einem Nachfolger für ihren längst abgeschriebenen Ehemann Ausschau hielt. Sie hatte ihren Vater bedenkenlos dem Spott und der Schadenfreude der Nachbarn ausgesetzt, indem sie sich mehrmals in der Woche von wechselnden Männern abholen ließ. Von da an hatte sich ihr Vater immer häufiger in sein unterirdisches Reich verzogen.
Als Chris an ihrem mit heruntergedrehten Scheiben auf dem Bordstein parkenden Wagen ankam, hörte sie die Stimme der Frau aus der Zentrale, die über die eingeschaltete Funksprechanlage fordernd sagte: »Zwodoppelvier, bitte, Zwodoppelvier an Zentrale!«
***
Rolf Kirchner saß in seiner Dortmunder Wohnung und starrte auf die Mattscheibe seines auf einen futuristischen cremefarbenen Standfuß montierten Palcolor-Fernsehers der Marke Loewe.
Vor ihm auf der nachtschwarz funkelnden Glastischplatte standen eine Schale mit Kartoffelchips und eine eiskalte Flasche Jever, an deren dunkelgrüner Außenhaut stecknadelkopfgroße Kondenswasserperlen klebten, die sich langsam auflösten. Im Raum herrschte eine Atmosphäre wie in einer abgedunkelten Sauna.
»Das kann doch nicht wahr sein!«, murmelte Kirchner, balanciertewie in Zeitlupe einen Chip in den Mund und begann mit den Zähnen zu mahlen.
Das gedämpfte Krachen, das seinen Kopf dabei erfüllte, hatte etwas von einem fernen Grollen, so, als drückten in seinen Gehörgängen die Sinneszellen auf den Grundmembranen wie verrückt mit ihren Härchen auf die Deckplatten in den Schneckengängen. Das Resultat war ein sekundenlanger wohliger akustischer Schauer in der eustachischen Röhre, der allerdings nicht über die vielen, schmerzhaft leeren Stunden hinwegtäuschen konnte, die er und seine Kollegen vom SEK im Planungszimmer vor dem laufenden Fernseher zugebracht hatten.
Jeden Moment würde Barbara eintreffen und ihn hoffentlich eine Zeitlang ablenken. Kirchner hatte die junge attraktive Frau, die er, der von jeher ein Faible für alles Italienische hatte, nur Bella nannte, eines Abends an einer Tankstelle kennengelernt.
Barbara Weigand, die als Trainerin in einem großen Fitnessstudio am Dortmunder Cityring-West arbeitete, wollte ihren schwarzen Mitsubishi Colt auftanken, hatte aber den Deckel ihres Tanks nicht aufbekommen. Kirchner, der an der Tanksäule gegenüber neben seinem elf Jahre alten schwarzweißen Opel Diplomat stand und beobachtete, wie sie sich erfolglos mit dem Deckel abmühte, war ihr zu Hilfe gekommen. Und als ihr kurz darauf beim Bezahlen auch noch das Portemonnaie herunterfiel und das Kleingeld unter die Regale rollte, half er ihr beim Aufheben der Münzen und kaufte anschließend zwei Dosen Beck’s, die sie in seinem Wagen sitzend leerten. Von da an trafen sie sich regelmäßig, und seit sieben Monaten waren sie ein Paar. Kirchner angelte nach der Schale mit den Kartoffelchips, als er hörte, wie sich Barbaras Schlüssel im Türschloss drehte.
Ein Reporter von Radio Bremen stand auf einer Straße in Huckelriede, unweit des dortigen Busbahnhofs, und kommentierte, während im Hintergrund immer wieder Journalisten und Fotografen aufgeregt durchs Bild liefen, die Situation mit den Worten:»Der Traum aller Journalisten ist wahr
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