Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
antwortete Brigitte barsch und sah sich das Gesicht des Mannes genauer an.
Auf ihrer zweiten, kürzeren Amerikareise 1981, dem Jahr vor seiner Ermordung, hatten Martin und sie in den Großstädten, vor allem in New York, immer wieder solche Typen gesehen, die ihre Habseligkeiten in Einkaufswagen durch die Straßen schoben. Im Central Park waren sie mit einem Mann, der sich Ken nannte, ins Gespräch gekommen, der ebenfalls seit langem auf der Straße lebte.
Ken, dessen Alter wegen seines dichten, bis zu den tiefliegenden Augenhöhlen reichenden Vollbarts und der langen, auf dem Rücken zu einem Zopf zusammengeknoteten Haare schwer zu schätzen gewesen war, erwies sich zu ihrer beider Überraschung als erstaunlich beredt und ungewöhnlich gebildet. Ken Shapiro, wie sein vollständiger Namen lautete, hatte als junger Flugzeugingenieur in den Boeing-Werken in Seattle an der Entwicklung der 737–100er-Baureihe, des sogenannten »City Jet«, der 1968 das erste Mal abhob, mitgearbeitet und war Anfang der achtziger Jahre, nachdem er sich beim Kauf mehrerer Grundstücke verspekuliert hatte, arbeitslos geworden. Seine Frau verließ ihn, und Ken ging nach New York, wo er sich eine Zeitlang damit über Wasser hielt, dass er in einem Elektroladen auf der 117. Straße defekte Radios und Fernsehgeräte reparierte.
Martin hatte Ken sofort zum Essen einladen wollen. Brigitte, der das alles viel zu schnell ging, schlug vor, Ken, der ihnen erzählte, er käme jeden Tag in den Central Park, um die Squirls zu füttern, am nächsten Tag wiederzutreffen und erst einmal näher kennenzulernen. Als sie dann tags darauf im Central Park standen, blieb die Bank, auf der Ken gesessen und sich mit ihnen unterhalten hatte, auch nach längerem Warten leer. Und auch als Martin am darauffolgenden Tag, einem regnerischen Montag, alleine in den Central Park ging und Stunden später völlig durchnässt von dort in ihr Hotel zurückkehrte, traf er Ken nicht mehr an.
Martin machte Brigitte heftige Vorwürfe. Sie habe durch ihr dummes Zaudern eine tiefergehende Beziehung zu einem Menschen vereitelt, in dessen zweifellos interessanter Biographie sich auf das Anschaulichste sämtliche Widersprüche der kapitalistischen, gnadenlos auf Siegen und Verlieren abonnierten amerikanischen Gesellschaft spiegelten. Damit hätte sie ihn nicht nur um die Fortsetzung seines Austauschs mit einem Opfer des von ihm zutiefst verachteten Reaganismus, der für ihn in einen Topfmit dem Hitlerismus und dem Stalinismus gehöre, gebracht, sondern auch seinen journalistischen Ehrgeiz im Keim erstickt. Denn er hätte eine Geschichte über diesen Ken schreiben wollen.
»Über einen obdachlosen Amerikaner, der im Central Park Eichhörnchen füttert?«, hatte sie lachend geantwortet. »Das meinst du doch nicht ernst?«
»Warum denn nicht«, hatte Martin seine Idee damals grimmig verteidigt. Schließlich sei die neue Kohl-Administration Reagan und seinem windigen Stellvertreter Bush, einem ehemaligen CIA-Chef, schon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ungeniert in den Arsch gekrochen.
Es hätte für die deutschen Leser durchaus interessant sein können, Reagans neues Brutalo-System, an dem der bereits kräftig bastelte, mal aus dem Munde eines Betroffenen unverschlüsselt erklärt zu bekommen. Doch sie hätte bloß Angst um ihre Urlaubsplanung gehabt. Zuletzt beschimpfte Martin sie als voreingenommene Egoistin, unfähig, sich auf Fremdes einzulassen. Er hatte die Zimmertür hinter sich zugeworfen und sich an der Hotelbar mit Scotch betrunken.
Am nächsten Tag, beim Auschecken, war Martin total aus der Haut gefahren, als man ihnen die angesichts der defekten Klimaanlage und der streichholzschachtelgroßen Schaben, die nachts regelmäßig über sie hergefallen waren, eine vollkommen unangemessene Schlussrechnung präsentierte. Als der Mann an der Rezeption trotz all seiner lautstarken Proteste nicht bereit gewesen war, ihnen einen Preisnachlass zu gewähren, knallte Martin ihm wutschnaubend einen Travellercheck auf das Desk und rächte sich wenig später auf seine Weise.
Er hatte sich in der Toilette aus dem Putzwagen, den das Reinigungsteam dort regelmäßig stehenließ, einen Arm voll Toilettenpapierrollen gegriffen und damit alle drei WCs mit jeweils zwei Rollen verstopft. Als er die Toiletten wieder verließ, das erzählte er Brigitte freudestrahlend, hätten die Spülungen wie dieNiagarafälle gerauscht. Und bei der Vorstellung, wie die Kloschüsseln sich langsam
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