Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
seine Arbeit als Fotograf verstand. Das klang einfach und überzeugend. Doch natürlich ahnte Ahrens, dass eines Tages eine Situation entstehen konnte, in der er sehr wohl eine Grenze überschreiten musste, um das zu bekommen, was er wollte.
Kein Zweifel: Das dort drüben waren die Geiselnehmer. Plötzlich zog der Langhaarige eine Pistole hervor, zielte und schoss auf die Seitenscheibe des BMW, brach anschließend größere Glasstücke aus dem Fensterrahmen und öffnete die Türverriegelung.
Etwa eine halbe Stunde zuvor hatte der 15-jährige Emanuele seine kleine Schwester in der Nähe des Busbahnhofs vom Sprachunterricht abgeholt. Seit einigen Wochen erhielt sie, deren karges Deutsch ihre Weiterversetzung gefährdete, Nachhilfe. Und Emanuele, der glaubte, seine Schwester, die auf andere oft einen ängstlichen, unsicheren Eindruck machte, beschützen zu müssen, hatte es sich angewöhnt, sie nach dem Boxtraining, das er deswegen einige Monate zuvor in einem Fitnessstudio in Huckelriede begonnen hatte, bei ihrer Nachhilfelehrerin abzuholen. Anschließend fuhren sie regelmäßig im 53er Bus nach Hause.
Nun saßen sie, genau wie Ines Voitle und Silke Bischoff, diegeplant hatten, sich am Abend gemeinsam einen Horrorfilm, den sie sich ausgeliehen hatten, anzusehen, in diesem Bus und warteten darauf, dass der Fahrer die Türen schloss und das Gefährt sich in Bewegung setzte.
»Non avere paura«, sagte Emanuele zu seiner Schwester und legte schützend seinen Arm um ihre Schultern, »du brauchst keine Angst zu haben, es passiert nichts«, weil er spürte, dass sie wegen der sich verzögernden Abfahrt und der Leute, die draußen vor dem Bus wild gestikulierend auf und ab gingen, unruhig zu werden begann. »C’è niente. Stai zitto. Es ist nichts, sei ganz ruhig.«
Ahrens sah die Kollegen von der Presse, die sich in sicherer Entfernung zu dem BMW postiert hatten. Fotografen, Rundfunkreporter, Fernsehteams. Die ganze Meute, dachte er. Dabei war er selbst einer von der Meute. Einer, der mitmischte im Kampf um die besten Bilder. Doch wo lag die Grenze? Wie weit durfte man gehen? Reichte es, wenn man aus sicherer Entfernung in der Rolle des berichtenden, moralisch einwandfreien Beobachters verharrte?
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, hatte der griechische Tragödiendichter Aischylos schon 500 Jahre vor Christus beklagt. Ahrens war irgendwann in einer von Jay Ullal fotografierten Stern-Reportage des von ihm ebenfalls bewunderten und 1982 im Libanon in Ausübung seiner Arbeit gestorbenen Reporters Martin Andernach auf das Zitat gestoßen und hatte es nie wieder vergessen. Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Das klang gut und gebildet und stimmte ja auch irgendwie. Doch wenn er mit seiner Kamera unterwegs war, um für AP oder sonst wen Bilder zu machen, dann waren Aischylos und sein schöner Satz weit weg. Dann zählte nur der beste Schuss, das exklusive Bild.
Bereits seit einigen Minuten studierte Ahrens die beiden Geiselgangsterund ließ seinen Blick nun ganz langsam über Rösners ärmelloses schmutziggelbes T-Shirt, seine tätowierten Hände und Arme und weiter hinauf auf sein von einem struppigen Vollbart umrahmtes Gesicht wandern. Zwischen Rösners Lippen klemmte eine beim Sprechen auf und ab wippende Zigarette, und seine dunklen, unter buschigen Brauen etwas zurückliegenden Augen wirkten trotz der langen Anspannung erstaunlich klar. In der Hand hielt er eine Pistole.
Rösner, der ihn bemerkte, winkte ihn plötzlich zu sich herüber. Lässig wie jemand, der einen nach dem Weg fragen will.
***
»Wir müssen für ihn beten«, sagte Amina und sah Thomas Bertram, der neben ihr auf der Bettkante saß, auffordernd an. Sie faltete die Hände vor der Brust. Ihre Pupillen hatten sich so sehr geweitet, dass das Weiß in ihren Augen fast verschwunden war.
»Beten?«, erwiderte Bertram. »Als ob das helfen würde.«
Seit der Begegnung mit der OP-Schwester fühlte er sich wie ein wildes Tier, auf das man Betäubungsspritzen abgefeuert hatte. Das nasskalte Hemd klebte auf der Haut. An seinen Armen schienen kleine Gewichte zu hängen, und sein Gesicht brannte, als sei es mit Dutzenden unsichtbar züngelnden Flämmchen überzogen. Ein paarmal strich er sich deswegen hektisch über beide Wangen und über die Stirn, doch hinterher brannte es genau wie zuvor.
Wann habe ich das letzte Mal gebetet? Bertram konnte sich nicht erinnern. Das musste in Hirschhorn gewesen sein. Anlässlich seiner Erstkommunion
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