Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
wahrscheinlich. Seine Mutter hatte Tränen der Rührung in den Augen gehabt, als er dem Pfarrer das Vaterunser nachsprach. Er aber hatte die ganze Zeit nur mit dem steifen Kragen seines neuen weißen Hemdes zu kämpfen gehabt, der ihm am Hals die Haut wundscheuerte.
»Was ist denn mit deinem Gesicht?«, fragte Amina genervt.
»Es brennt«, antwortete Bertram so kühl, als beleidige ihn ihre Frage.
»Dann tu doch was dagegen.« Sie tauchte kurz aus ihrer Andacht auf, um sich mit dem Handrücken ihrer rechten Hand über die Stirn zu wischen. Dann faltete sie wieder ihre Hände und schloss die Augen.
Bertram konnte sich leicht ausmalen, um was sie den sogenannten Allmächtigen in ihrer Anrufung bat, und faltete aus Solidarität mit ihr nun ebenfalls die Hände. Dabei hielt er diesen ganzen Glaubenskram, seit er denken konnte, für einen Witz. Und spätestens als er den Hirschhorner Pfarrer, der ihm schon im Kommunionsunterricht mit seinem Getue auf die Nerven gegangen war, zufällig dabei beobachtete, wie er in der Sakristei in großen Schlucken Messwein aus der Flasche trank und anschließend ungeniert rülpste, konnte der ihm mit seinem ganzen Gerede von Zucht und Ordnung und den Augen des Herrn, die unentwegt auf einen gerichtet seien, um einen auf dem steinigen und von sündigen Verlockungen dichtgesäumten Pfad der Tugend zu begleiten, gestohlen bleiben.
Bertram, der sich seinen Sohn lange als eine winzige, ständig alarmierte Raupe vorgestellt hatte, die sich zusammengerollt in Aminas Bauch im Finstern verbarg, und später als eine Art Alien, wie man ihn angeblich 1947 im amerikanischen Roswell geborgen hatte, nachdem über dem dortigen Luftwaffenstützpunkt ein UFO abgestürzt sein sollte, glaubte nicht an diesen ganzen Hokuspokus. Er wollte lieber auf die Fähigkeiten des zuständigen Chirurgen vertrauen und darauf, dass Paul aus dem gleichen Stoff gemacht war wie er selbst: nämlich dem robusten Holz einer Odenwälder Blautanne, die nicht gleich beim erstbesten Windstoß einknickte. Denn daran, dass bereits ein paar demütig zum Himmel hinaufgeschickte Worte genügen sollten, um die höheren Mächte davon zu überzeugen, dass Pauls Weg, anders als es im Moment den Anschein hatte, nicht ins Dunkeldes Nichts, sondern vielmehr ins helle Licht führen sollte, daran konnte Thomas Bertram beim besten Willen nicht glauben. Und so löste er entschlossen seine eben noch gefalteten Hände und seufzte, von einer plötzlichen Unruhe gepackt: »Jetzt könnten sie uns aber wirklich langsam mal sagen, was los ist.«
***
In der abgedunkelten Wohnung musste irgendwo ein Fenster offenstehen, denn als sie die Tür ihres kleinen Arbeitszimmers öffnete, wirbelten, vom fauchend hereindringenden Luftzug erfasst, zahllose Manuskriptseiten wie riesige Papierschmetterlinge von der Tischplatte ihres Schreibtischs auf und verteilten sich, noch ehe Brigitte die Tür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, im ganzen Raum.
Normalerweise beschwerte sie die einzelnen Papierstöße, die sie beim Arbeiten griffbereit neben der Schreibmaschine liegen hatte, mit besonders schönen Basalt- oder Tuffsteinen, die sie von ihren Streifzügen ins Bergische Land mit nach Hause brachte. Weshalb dieser Stoß allerdings derart ungesichert dagelegen hatte, war ihr ein Rätsel.
Bei den auf dem Boden verteilten Blättern handelte es sich, wie sie nun erkannte, um die Abschrift des Interviews, das sie kürzlich dem Hamburger Büchermagazin »Romantische Bücherecke« gegeben hatte.
Eine junge Journalistin hatte sich telefonisch angekündigt und ein paar Tage später vor ihrer Tür gestanden. Brigitte hatte sich, nachdem sie das Interview nach über drei Stunden beendet hatten, ausbedungen, eine Abschrift davon zu erhalten, bevor es veröffentlicht wurde. Und keine Woche später hatte ein packpapierbrauner Umschlag des Magazins in ihrem Briefkasten gelegen. Ärgerlich ging sie auf die Knie und klaubte die Blätter zusammen.
Seit ihrer Begegnung mit der jungen Redakteurin der »Romantischen Bücherecke« hatte Brigitte keinen Gedanken mehr an dasInterview verschwendet. Doch wie sie nun so auf dem Boden saß (obwohl sie doch ins Haus gegangen war, um dem Fremden ein Handtuch und ein Stück Seife zu holen), hielt sie den Papierstapel in das spärlich, zum nicht ganz abgedunkelten Fenster hereindringende Licht und begann das Geschriebene zu überfliegen:
Romantische Bücherecke: Könnten Sie uns ein wenig von sich selbst erzählen? Wie sieht Ihr
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