Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
aus dem Umschlag. Sie legte den Öffner und den Umschlag auf den Schreibtisch, hielt das mit wenigen Zeilen handgeschriebene Stück Papier ins Licht und begann zu lesen:
Liebe Brigitte,
nun haben wir so lange nichts mehr voneinander gehört. Ich habe gelesen, dass Du inzwischen eine sehr erfolgreiche Autorin bist, Gratulation. Ich habe mich oft gefragt, wie es Dir in den Jahren nach Martins Tod ergangen ist. Nun rückt mein eigener immer näher. Komm mich in Spanien besuchen – aber warte nicht zu lange, denn mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich möchte mit Dir reden.
Alles Liebe, Marianne
Brigitte stockte kurz und hob den Kopf, weil sie meinte, draußen einen Schrei gehört zu haben. Sie überflog das Geschriebene wieder und wieder, so, als ließe sich, wenn sie nur genau hinsah und darauf beharrte, zwischen den enggefügten Wörtern vielleicht doch ein Durchlass finden, ein Ausweg heraus aus der beklemmenden Enge und Dunkelheit der Worte.
»… denn mir bleibt nicht mehr viel Zeit.« Dieser Satz traf sie wie der unerwartete Stich einer Injektionsnadel, deren Inhalt blitzartig in ihrem Innern seine lähmende Wirkung entfaltete. Noch nie seit Martins Tod war sie derart schutzlos auf ihre damaligen Empfindungen zurückgeworfen worden. Ihre Hände zitterten, und ihr Atem und ihr Puls beschleunigten sich.
Brigitte ließ sich in den vor dem Bücherregal stehenden Lounge Chair fallen und drückte den Brief gegen ihren Mund. Sie versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen. Plötzlich sah sie alles wieder mit schmerzhafter Überdeutlichkeit vor sich: die im raschen Wechsel von Hell und Dunkel vergehenden Tage, in denen sie damals vergeblich auf ein Zeichen von Martin gewartet hatte, einen Anruf, ein Telegramm, irgendetwas, das ihr signalisierte, dass es ihm gutging und er in Sicherheit war. Und dann der Sturz kopfüber in die große betäubende Leere, als die Nachricht seines Todes kam.
Anschließend hatte sie wochenlang seinen eingebildeten Todesschrei im Ohr gehabt. Als eine Art Tinnitus. Aber hatte er im Moment der Explosion noch Zeit gehabt, zu schreien? Oder war da bloß ungläubiges Erstaunen auf seinen erstarrten, sonnengebräunten Zügen gewesen? Gelähmt vor Trauer, war sie zu nichts als dumpfem Starren in der Lage gewesen.
Diesen Zustand hatte sie abgeschüttelt, mühsam und mit Hilfe von Tabletten, die ihr ein befreundeter Psychiater verschrieb. Langsam, unter Aufbietung sämtlicher Kräfte und dank des Schreibens, hatte sie sich ein neues Leben, eine neue Perspektive erkämpft. Sie hatte das Dunkel durchschritten, tapfer und ohne zu fallen, und wollte auf keinen Fall dorthin zurück. Nichts und niemand würde sie dazu bringen, noch einmal eine solche Qual auf sich zu nehmen. Auch nicht der Brief einer Sterbenden.
Nein, sie wollte das alles nicht mehr sehen: keine Bilder mehr eines wie auch immer gearteten Krieges oder Kampfes. Ganz gleich, ob es sich dabei um die Bilder fanatischer arabischerGlaubenskrieger handelte oder um die eines vom Krebs gezeichneten Menschen, dessen Tage gezählt waren.
Selbst Martin, der lange Zeit nicht genug davon bekommen konnte, kriegerische Auseinandersetzungen aus nächster Nähe zu beobachten, um den schleichenden Tod des Anstands, der gegenseitig respektierten Würde und der Wahrheit, den er dabei jedes Mal neu mitzuerleben meinte, zu beschreiben, war die Bilder, die er von da oder dort mit nach Hause brachte, am Ende kaum mehr losgeworden.
Nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Tibet Ende der siebziger Jahre, wohin er für eine Reportage über lamaistische Mönche gefahren war, die angeblich gemeinsam mit einer kleinen Adelsschicht Leibeigene und Sklaven hielten, die von einer Mönchspolizei überwacht würden, hatte er immer öfter davon gesprochen, dass ihn nur der Buddhismus reizen könnte, falls er eines Tages auf die Idee käme, für sich einen Glauben zu wählen. Der Buddhismus sei die einzige Religion, die nie Kriege geführt oder Gewalt angewendet hätte, um ihre Lehre zu verbreiten. Außerdem anerkenne der Buddhismus nur den Gott, der in jedem selber ruhe. Das hatte ihm damals offenbar gefallen. So, als hätten ihn, den scheinbar unerschütterlichen Realisten, plötzlich Zweifel befallen, dass das, was er sah, hörte und erlebte auf seinen Fahrten durch verödete Slums in Neu-Delhi oder zerschossene libanesische Geschäftsstraßen, nicht das Leben war.
Nein, sie würde Marianne nicht in Spanien besuchen. Sie würde den Brief in angemessener Form
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