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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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beantworten, freundlich und anteilnehmend. Der Staub der Jahre hatte sich über die Ereignisse von damals gelegt und ihnen ihre spitzen, schneidenden Kanten genommen. Und sie sah keinen Grund, ihn wegzupusten und alles wieder mit derselben schmerzhaften Klarheit sehen zu müssen. Außerdem: Was gab es denn noch zu reden zwischen ihnen? Was sollte das sein, das sie ihr zu sagen hätte?
    Brigittes Blick fiel auf Baums Roman »Liebe und Tod auf Bali«,der im Regal neben all den anderen Baum-Titeln stand. Sie hatte das Buch mit dem rot bedruckten Rücken mit angehaltenem Atem verschlungen. Sie zog die ockerfarbene Büchergilde-Ausgabe aus dem Regal, schlug sie auf und las das Motto aus der Bhagavad Gita, das die Baum damals ihrer 1937 veröffentlichten Geschichte vorangestellt hatte: »Das Ende der Geburt ist der Tod / Des Todes Ende ist Geburt / So ist’s verordnet.«
    Sie schob Mariannes Brief in den Umschlag zurück, legte ihn wie ein Lesezeichen in das aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegende Buch und klappte es zu.
    ***
    Die gehört mir, dachte er, als er sie sah. Er hob gut sichtbar für alle Fahrgäste den schweren Colt in die Höhe und steuerte auf die schwarzgekleidete junge Frau mit den platinblonden Haaren in der dritten Sitzbank links zu. Ihre Nachbarin am Fenster, die einen hellen Pulli trug und an deren rechtem Handgelenk Ringe und ein schwarzgelbes Lederband glänzten, sah ihn voller Angst an.
    Er machte noch zwei Schritte in die Tiefe des Busses hinein, dann richtete er den Colt auf die Blonde und sagte: »Du da! Steh auf!«
    »Wer? Ich?« Silke Bischoff deutete mit dem Finger auf sich und suchte dabei den Blick ihrer Nachbarin.
    »Ja, du!«, sagte Degowski, »na los!«
    Langsam erhob sich das Mädchen von seinem Platz, ohne seine Freundin aus den Augen zu lassen.
    »Du bist jetzt meine persönliche Geisel«, sagte Degowski und dirigierte sie mit der linken Hand zu sich hin. Er wollte herausfinden, ob sie nach Parfüm roch, er wollte sie berühren, ihr junges Fleisch anpacken. Denn so eine Hübsche hatte er noch nie angefasst. Solche bekamen sonst immer nur die anderen. Doch die hier gehörte jetzt ihm. Die hatte ein richtiges Puppengesicht.An der stimmte einfach alles. Die Haare, die Augen, der Mund. Und wie die guckte. Doch dann sagte er sich: Ich bin doch nicht so eine Drecksau, die einfach fremde Weiber angrabscht, und lächelte sie verlegen an.
    Rösner stand draußen vor dem Bus und unterhielt sich mit einem Mann in weißem Jackett, blauem Hemd und schwarzer Hose. Auf Degowski wirkte der Typ mit seinen langen weißblonden Haaren ziemlich lässig. Er hatte eine Hand in der Tasche, während er mit der anderen seine Kamera hielt. Musste ein Fotograf sein.
    Reinhold, Andrea und die Marion, die eine dunkle Sonnenbrille trug, nahmen hinten im Bus Platz und untersuchten, auf Rösners Anweisung hin, die erbeuteten Geldscheine auf Polizeiwanzen.
    An der offenstehenden Ausstiegstür saß ein ausländischer Junge und hatte schützend einen Arm um die Schulter eines kleineren Mädchens gelegt, in dessen pechschwarzem Haar ein bunter Reif steckte. Niemand sprach. Alle starrten nach vorn oder nach draußen, wo Rösner sich weiter mit dem Fotografen unterhielt. Auf der gegenüberliegenden Seite, hinter parkenden Autos, brachten sich Fotografen und Reporter mit ihren Kameras in Stellung.

    Keine 50 Meter davon entfernt stand Adam Jalowy. Seine Schicht war zu Ende, und jetzt beriet er mit mehreren herbeigelaufenen Kollegen, was sie tun sollten. Die beiden Verbrecher hatten den 53er Bus in ihre Gewalt gebracht und forderten einen frischen Fahrer.
    Jens Kaspers, der bis vor einer halben Stunde am Steuer des 53er gesessen hatte, bat darum, nach Hause zu dürfen. Als Rösner mit seiner auf ihn gerichteten Waffe vor der verschlossenen Bustür stand, gab er Gas und fuhr an. Doch weil er nicht über die rote Ampel fahren wollte, hielt er wieder an und machte Rösner die Tür auf.
    Jens Kaspers’ grüngraue Augen flackerten nervös. Die bloß noch stecknadelkopfgroßen Pupillen waren kaum noch zu erkennen. Alle sahen sie, was mit ihm los war: Er hatte Angst. Genau wie sie selbst. Doch weil seine kranke Frau zu Hause auf ihn wartete, ließen sie ihn gehen. Wer sollte an seiner Stelle übernehmen und den mit fast dreißig Personen besetzten 53er ins Ungewisse steuern? Wer besaß so viel Mut? Da sagte Adam, ohne lange zu überlegen: »Ich mach das!«

    Das verwitterte, vom Flugrost wie mit Pockennarben überzogene

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