Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Außenthermometer neben dem Eingang der Petrus-Apotheke zeigte auch jetzt noch, zehn Minuten vor halb acht, irrwitzige 32 Grad Celsius.
Peter Ahrens, der die heftig diskutierenden Fahrer der BSAG beobachtete, dachte: Es braucht keinen Mut, um sich in Lebensgefahr zu begeben. Das Adrenalin vernebelt die Gefahr. Tatsächlich kam die Angst erst später, nachträglich, als schmerzhaftes, zeitversetztes Echo.
Der Gott der Vorsehung hatte es an diesem 17. August so gut wie noch nie mit ihm gemeint, indem er Dagmar Scharlow im entscheidenden Augenblick in einen Unfall verwickelte, der es ihr unmöglich machte, an seiner Stelle hier zu stehen: mitten im Auge dieses medialen Hurrikans, und er, der Junge aus Gröpelingen, würde die Bilder dazu liefern. Aus dem Innersten des Schreckens. Er alleine. Und berühmt werden damit. Und sich unsterblich machen. Genau wie James Nachtwey mit seinen Fotos von den irischen Unruhen im Belfast der frühen achtziger Jahre. Oder wie Jay Ullal 1976 beim Massaker von Damur. Jetzt war er dran, hatte er den Scoop, von dem die meisten seiner Kollegen ihr Leben lang vergeblich träumten. Der plötzliche Sprung heraus aus der Masse, der Moment, der alles verändert, die Sekunde, in der mit einem Mal die anderen ihre Objektive auf dich richten und du Fotogeschichte schreibst.
Ahrens musste leer schlucken, drehte sich um und spuckte aus. Dann wandte er sich wieder Rösner zu. Jenem Mann, der das Land seit nunmehr anderthalb Tagen in Atem hielt und der ihm aus irgendeinem Grund vertraute. Ihm, dem AP-Mann Peter Ahrens. Er würde ihn nicht enttäuschen.
***
Über die Szenerie hatte sich ein melancholisches Licht gebreitet, und alles mit einem friedlichen, den Ereignissen hohnsprechenden Orangeton überzogen. Der seit Stunden hitzebestrahlte Asphalt war längst butterweich gekocht und begann da und dort Blasen zu werfen.
Adam blickte in die angespannten, verschwitzten Gesichter seiner Kollegen, sah ihr zustimmendes Nicken. Eine Stille herrschte, als presse jemand beide Hände fest gegen seine Ohrmuscheln. Sämtliche Geräusche waren zu einem fernen Rauschen gedämpft.
»Ich mach das!«, hatte er gesagt. Die Worte waren ihm wie von selbst über die Lippen gekommen, als hätte sie ein anderer an seiner Stelle gesagt.
Adam musste an Martha und den Brief denken, den er ihr geschrieben hatte, und dass er doch eigentlich die Taxifahrerin anrufen wollte. Im nächsten Moment spürte er, wie ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte und ihn wegzog.
Vor dem 51er Bus stand immer noch Alfred Borgward. Er beschirmte mit der Hand die Augen gegen die tiefstehende Sonne und spähte herüber. Wie zum Zeichen der Ermunterung winkte er einmal kurz. Dann drehte er sich um und verschwand mit seiner Tasche vor der Brust hinter dem Bus.
Was wissen wir schon, was Gott mit uns vorhat. Vielleicht hat er genau das für uns vorgesehen, wogegen wir um seinen Beistand bitten. Adam fielen die Worte seiner Mutter Kachna ein, die sie gesagt hatte, bevor sie von ihrer tödlichen Erkrankungerfuhr. Dabei hatte sie eine Furchtlosigkeit ausgestrahlt, die ihn berührt, ihm aber auch Angst gemacht hatte.
Trotz ihrer Menopause waren immer wieder Blutungen aufgetreten. Sie deutete diese Tatsache, sie war damals 51, jedoch nicht als Warnzeichen, sondern war, wie über so vieles, einfach sorglos darüber hinweggegangen. Auch hatte sie die wiederkehrenden Unterleibsschmerzen und die Tatsache, dass ihre Röcke neuerdings am Bauch mehr spannten, einfach ignoriert. Sie schob es auf ihre zu fette Ernährung und bekämpfte den Tumor, der unbemerkt in ihrer Gebärmutter wuchs, über ein Jahr lang mit einer Diät. Sie gab weniger fette Wurst in die Bigos, verzichtete beim Frühstück auf Butter und bereitete die Soße der Golabki, der geschmorten Kohlrouladen, die ihr Mann so gerne aß, zu dessen Verdruss mit weniger Butter zu. Doch der Krebs nistete sich während ihrer gutgemeinten Diät tief in der Muskelwand ihrer Gebärmutter ein. Von dort aus streute er zuerst Metastasen in den Gebärmutterhals und anschließend in die Lymphknoten im Becken. Und als die Schmerzen so groß geworden waren, dass sie sie nicht länger ignorieren konnte, und zum Arzt ging, war es bereits zu spät. Denn obwohl sie Operationen und zwei Chemotherapien über sich ergehen ließ, starb sie kurz nach ihrem 52. Geburtstag, auf 46 Kilogramm abgemagert.
An einem regnerischen Freitag begruben sie sie auf dem jüdischen Friedhof Widok cmentarza, auf dem schon ihre
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