Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Abschlussbericht zu den Ereignissen schreiben, »dass von einer Leitung durch den Polizeiführer nichts zu spüren war«. Sämtliche Versuche Kirchners, zu Steinwald durchzudringen, waren fehlgeschlagen.
»Wir hätten die nicht aus der Bank rauslassen dürfen!«, sagte Kirchner und drehte sich zu Barbara um.
»Lass es, Rolf! Das führt zu nichts«, erwiderte sie nun weniger entschieden und steckte sich eine neue Zigarette an, nahm einen Zug und hielt sie ihm hin.
»Kann sein«, gab er klein bei wie ein Kind, das sich von einem auf dem Boden liegenden, viel zu schweren Stein, den es eben noch entschlossen hochzuheben versuchte, resigniert abwendet. Dabei ergriff er die Zigarette, schob sie sich zwischen die trockenen Lippen und inhalierte das stimulierende Gift, so tief er konnte, in seine Lungen.
Später, wenn alles vorbei ist, wird er sich an diesen Moment erinnern, wie er hier gelegen, geraucht und dabei die von einem letzten, zwischen der nicht ganz geschlossenen Jalousie hereindringenden Sonnenstrahl erzeugte goldene Linie verfolgte, die sich von Barbaras straffem, glattem Bauch, mit der an ein geschlossenes Augenlid erinnernden Blinddarmnarbe, hinüber zu ihrem sacht ansteigenden Brustkorb spannte und von dort in die steil ansteigende Silhouette ihrer Brust überging.
Er wird sich an alles erinnern, was in diesem Sommer passiert war. Nicht nur an die alptraumartigen Tage im August oder an das, was er davor und danach erlebte. Sondern vor allem an das, was er dabei gefühlt und was alle anderen Empfindungen jener Stunden und Tage überdeckt hatte: das Gefühl, im entscheidenden Moment versagt zu haben.
***
Kennengelernt hatten sie sich 1976 auf dem Kölner Weihnachtsmarkt. Martin hatte eine Amethyst-Brosche für seine Schwester Marianne bei ihr gekauft und sie bereits am nächsten Tag ungeniert auf eine Tasse Kaffee im Bahnhof eingeladen. Es dauerte nicht lange, und er zog bei ihr ein. Mit einem Koffer, zwei Lederjacken, einer großen, mit Schuhen vollgestopften H & M-Einkaufstüte, seiner cremefarbenen abgestoßenen Reiseschreibmaschine Underwood 18 und einer dunkelblauen Puma-Sporttasche voller Bücher.
Im Frühling 1977 brachen sie gemeinsam nach Galicien, nach Santiago de Compostela auf, um den Pilgerweg zum angeblichen Grab des Apostels Jakobus zurückzulegen. Martin versprach sich von der Wallfahrt eine innere Reinigung, denn schon damals wurde er immer schlechter mit dem fertig, was er auf seinen Reisen in die Krisengebiete erlebte. Als sie sich in den Pyrenäen auf den Weg machten, packten sie für jedes Problem, das sie auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela loszuwerden hofften, feierlich einen Stein in ihre Rucksäcke. Und mit jeder Lösung eines Problems ließen sie, zelebriert mit geradezu kindlicher Freude, einen Tuffstein am Wegesrand zurück.
Zurück in Köln, bezeichnete Martin ihre Wallfahrt als eine der wichtigsten Erfahrungen seines Erwachsenenlebens. Als er nur drei Monate später von einer Recherchereise aus Somalia zurückkehrte (gegen die Interessen Äthiopiens versuchte Somalia mit Waffengewalt und ethnischen Säuberungen Kontrolle über den unabhängigen Ogaden zu erlangen, der mehrheitlich von Somalis bewohnt wurde), wirkte er bereits wieder genauso gestresst und fahrig wie vor ihrer Pilgerfahrt.
Brigitte legte das Buch mit Mariannes Brief darin auf den Schreibtisch, lief mit leicht pochenden Schläfen aus dem halbdunklen Zimmer und steuerte auf die von der Diele abgehende Gästetoilette zu. Dort nahm sie das eingetrocknete Stück Seife aus der auf dem Beckenrand liegenden handtellergroßen Schale,drehte den Wasserhahn auf, schob ihre zitternden Hände unter den angenehm kühlen Wasserstrahl und seifte, erst langsam und zögerlich, schließlich aber immer heftiger ihre Hände ein. Dabei ließ sie den dünnen, glitschigen hellblauen Keil wieder und wieder von der einen Hand in die andere gleiten, spülte die dicken, sich bildenden Schaumblasen flüchtig unter dem laufenden Wasser ab und wiederholte das Ganze so lange, bis Blut den Schaum rötlich zu färben begann und sie endlich das befriedigende Brennen spürte, das in Entlastung und Erleichterung überging. Dann schloss sie die Augen.
Irgendwann schlug sie sie wieder auf und fixierte sich in dem kleinen Wandspiegel, an dessen oberem Rand als schwacher, grünlicher Abglanz vom Fenster her die Ligusterbüsche im Garten zu erahnen waren. Dabei ließ sie das inzwischen nur noch hauchdünne Stück Seife achtlos ins Becken
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