Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
ihn gewesen wäre: einen Mann, der seinen Namen trug und sich, auf die Suche nach der Wahrheit, furchtlos mit seiner Kamera im Anschlag ins Auge des Orkans vorwagte.
»Biste von der Presse?«, fragte Rösner und sah ihn an.
»Ja«, sagte Ahrens und blinzelte. »AP. Associated Press. Hab dich eben fotografiert. Von da drüben.« Er wandte sich kurz um und zeigte auf die andere Straßenseite, wo sich seine Kollegen hinter parkenden Autos verschanzten. Genau wie die Polizisten in Zivil.
»Könntest ja auch ein Bullenfotograf sein«, sagte Rösner, der auf der untersten Stufe des vorderen Buseinstiegs stand. Ahrens sah, wie müde er war. »Bin aber keiner.«
»Wir sind total sauer auf die Bullen«, sagte Rösner. »Erst lassen se über Radio mitteilen, dass se die Verfolgung aufgegeben haben und so ’n Scheiß, und dann sin überall Bullen, wo wir auftauchen. Sieh dir dat doch mal an. Da drüben hocken se, die verdammten Schweine, und ham Schiss inne Hose.«
Er zog Ahrens, indem er ihm geradezu freundschaftlich die vom Nikotin vergilbte Hand auf die Schulter legte, in den Bus. »Wir mussten wat unternehmen, dat verstehste doch, also ham wer den Bus gekapert.«
»Aus Rache?«
»Ja, aus Rache. Damit se sehen, dass wer’s ernst meinen.«
»Und was wollt ihr jetzt machen?«, erwiderte Ahrens und ließ seinen Blick auf der Waffe ruhen, die Rösner so irritierend selbstverständlich in der Hand hielt, dass keinerlei Gefahr von ihr auszugehen schien.
»Wir brauchen ein neues Fluchtauto und nicht so ’ne Scheißkarre wie die.« Rösner deutete mit der Waffe auf den zerschossenen BMW, der mitten auf der Straße stand. »Und es muss ein großes sein, für fünf Leute, verstehste?«
Ahrens, der sich mit Wagentypen auskannte, sagte: »Einen 7er zum Beispiel?«
»Jau, so ’ne richtig fette Karre«, sagte Rösner.
Ahrens sah den Busfahrer, der am Steuer saß und ihrem Gespräch reglos lauschte.
»Der da is deiner, was?«, sagte Rösner und deutete auf den Mercedes.
»Ja, nichts Besonderes«, antwortete Ahrens. »Alter Benz halt. Ist aber okay.«
»Ist doch Klasse, dat Ding«, sagte Rösner anerkennend und grinste. Dann machte er plötzlich eine knappe, unkontrollierteBewegung mit dem linken Arm, und Ahrens konnte die Tätowierung sehen: eine Frau, die auf einem erigierten Penis ritt und ihn dabei umarmte. Knapp darunter war mit blauer Farbe ein Dollarzeichen in die Haut geritzt.
»Hör mal«, sagte Rösner. »Wir wollen eine Geisel aus dem Bus mitnehmen, mit Handschellen, und einen Bullen zum Austausch, Hände auf’m Rücken und so, auch mit Handschellen, wa?«
Und Ahrens, der sofort verstand, sagte: »Soll ich denen das jetzt sagen?«
Rösner nickte. »Ja, geh rüber zu den Bullen, aber mach hin.«
Ahrens sprang aus dem Bus und ging so langsam, als müsse er jeden Schritt einzeln auskosten, hinüber zu den hinter den parkenden Fahrzeugen verschanzten Polizisten. Bei jedem Schritt schlug die Kamera gegen seine Brust.
***
Mechanisch tauchte Marc seinen Teelöffel in die offene Villeroy & Boch-Zuckerdose, grub ihn kurz in die weiße, körnige Masse und häufte ihn, durch eine kurze Hebelbewegung, voll. Dann zog er ihn vorsichtig wieder heraus und balancierte ihn über das wie jeden Abend auf dem Tisch zwischen ihm und dem Vater ausgebreitete (und nahezu immer gleiche) Arrangement aus Brotkorb, Teekanne (in der sich eisgekühlter Hagebuttentee befand), Margarinedose, Gurkenglas, Wurst- und Käseteller, Senf-und Mayonnaisetube und kippte die weiße Ladung zielgenau in seinen Tee. Versunken verquirlte er den Zucker so lange in der weinroten Flüssigkeit, bis er die Stimme seines Vaters vernahm, der sagte: »In Berlin hat sich mal jemand totgerührt. Was ist denn los mit dir?«
Marc dachte an den »Sieben-Punkte-Plan zur Erhaltung des Gedächtnisses«, den er einige Monate zuvor nach Rücksprache mit dem Apotheker am Kanaltorplatz in bester Absicht mit Tesafilman die Kühlschranktür im Apartment des Großvaters geklebt hatte:
Durchorganisiert sein
Emotionale Assoziationen
Notizen machen
Denkübungen
Richtige Ernährung
Anstrengungen nicht meiden
Nickerchen machen
Bis auf das Nickerchen, das er regelmäßig nach dem Mittagessen auf seiner Couch machte, und die richtigen Nahrung, die er, so man dem angeblich auf die jeweiligen Bedürfnisse der einzelnen Patienten zugeschnittenen Wochenspeiseplan glauben durfte, Tag für Tag in dem kleinen, hellen und zur lichteren Mainseite weisenden Speisesaal zu sich
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