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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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vorbei und verklangen. Er warf einen Blick auf seine Citizen, sie zeigte 19 Uhr 41.
    Von dem jungen Mann, der nun statt des grauhaarigen Alten, der ihn am frühen Abend begrüßt hatte, in einem flammend roten T-Shirt in der Glaskabine saß, ließ er sich den Weg zum Kaffeeautomaten sagen und folgte dem langen Gang, an dessen mit Raufasertapete beklebten Wänden gerahmte Motive aus der »Sendung mit der Maus« hingen.
    Er warf achtzig Pfennig in den Automaten und drückte »Kaffee, schwarz«. Beim Anblick der öligen Flüssigkeit musste er an die verkohlte Leiche denken, die er kürzlich für RTL Extra gefilmt hatte. Kaum eine Minute hatte er die Kamera auf den vollkommen unkenntlich gewordenen Menschenrest gehalten, den die Feuerwehrleute auf einer Metallbahre aus dem noch immer qualmenden Obergeschoss eines Hauses in Köln-Weiden trugen. Der Anblick hatte ihm eine derartige Übelkeit verursacht, dass er sich keine zwei Minuten später, abseits an einen Baum gelehnt, mehrere Male übergab.
    Als er am Abend seine Bilder im Fernsehen sah, überkam ihn ein Gefühl der Scham und Wut. Scham, weil er seine Skrupel einfach ignoriert und im entscheidenden Moment mit seiner Kamera draufgehalten hatte. Und Wut auf Maibach, der ihn dazu gebracht hatte, mit ihm gemeinsame Sache zu machen, indem er ihm nicht widersprach und sich nicht auf dem Absatz umdrehte und verschwand, um sich nach einer anständigen Tätigkeit umzusehen. Hatte er nicht sogar mal einen Preis dafür erhalten, dass er sich als Journalist an die Gesetze der Fairness, des gegenseitigen Respekts und des Anstands hielt? Was war aus ihm geworden?
    Maibach lobte ihn am nächsten Tag in der kleinen Konferenz mit dem für ihn typischen falschen Überschwang für seine Bilder und sein unerschrockenes Vorgehen. Dabei waren die Sequenzender zur Unkenntlichkeit entstellten Lehrerin, die mit einer brennenden Zigarette im Bett eingeschlafen war, gerade mal zwölf Sekunden lang zu sehen gewesen.
    In solchen Momenten gefiel sich Thomas Bertram darin, sich ausgiebig zu hassen. Er hasste sich dafür, mit seinem Tun die niederen Instinkte eines nach immer extremeren Bildern gierenden Millionenpublikums über die eigenen moralischen Werte zu stellen und sich damit zum Handlanger einer Medienmaschinerie zu machen, die immer neue Leichen, immer hässlichere Gräueltaten und noch mehr bluttriefende Eskalationen brauchte, um den über dem ganzen Bilderirrsinn immer fühlloser werdenden Nerv der großen Masse überhaupt noch zu treffen. Wie pflegte Maibach zu vorgerückter Stunde und mit der nötigen Menge Cocktails intus zu predigen: »Die visuell verabreichten Schocks müssen immer heftiger sein, immer gemeiner und immer perfider, damit sich da draußen bei den in ihren Sesseln sitzenden Gaffern überhaupt noch was regt und sie nicht – gelangweilt oder längst bis auf die Knochen abgestumpft durch so viel monotones, alltäglich gewordenes Grauen – in Scharen ins ZDF zu ›Lou Grant‹ oder ins Erste zu Heinz Sielmann abwandern und damit unsere Quote in den Keller drücken.«
    Doch was zum Teufel ging ihn die Quote an? Hatte er nicht weiß Gott andere Probleme? Irgendwo da oben kämpfte sein Sohn ums Überleben. Wie lächerlich war das eigentlich, sich zum Opfer eines Systems zu stilisieren, das er noch vor gar nicht allzu langer Zeit Amina gegenüber vollmundig als die Chance angepriesen hatte, seiner vermaledeiten Hirschhorner Jugend, die ihn noch manchmal in seinen Träumen heimsuchte, endlich und ein für alle Mal in Form einer großartigen TV-Journalistenkarriere zu entfliehen. Was war verdammt noch mal los mit ihm?
    Er trank den letzten Schluck des kalt gewordenen Kaffees, zerdrückte grimmig den Plastikbecher und beförderte ihn an der Pforte mit einem gezielten Wurf in den dort stehendenAbfalleimer. Und mit Blick auf das vom schwachen Schein der eingeschalteten Schreibtischlampe spärlich erhellte Gesicht des versunken in einem Automagazin blätternden jungen Mannes in seiner Glaskabine, der auf ihn wirkte wie ein einsam durch die unendlichen Weiten der Nacht steuernder, vom Schein der Armaturen beleuchteter Brummifahrer, fasste er einen Entschluss.
    ***
    Sie setzte den Blinker, zog den Wagen rechts an den Bordstein und schaltete die Hungerleuchte, wie manche Kollegen das Leuchtschild auf dem Wagendach verächtlich nannten, aus. Dann stieg sie aus und strebte dem erleuchteten Kiosk zu, an dem sie oft Marshmellows kaufte.
    Chris liebte die aus Eischnee, Geliermittel,

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