Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Zucker sowie Aroma- und Farbstoffen hergestellten, streichholzschachtelgroßen Schaumblöcke, seit sie denken konnte. Das Weiche daran, wenn sie mit der Zungenspitze dagegen drückte. Und die pudrige Süße, die ihr jedes Mal neu sekundenlang die Sinne betäubte, wenn sie daran roch.
Ihr Vater hatte ihr die ersten Marshmellows geschenkt, als sie in den Kindergarten kam. Vor dem Fernseher sitzend, konnte sie das Zeug tütenweise und ohne schlechtes Gewissen in sich hineinstopfen. Anschließend machte sie eine Woche lang einen Bogen um den Kiosk an der Martinistraße, vor dem sie gerade stand. Bis sie wieder diese unstillbare Lust auf die weißen, rosafarbenen oder blauen Eischneegebilde verspürte und, von irgendwoher kommend, vor dem kleinen Laden hielt und sich eine Monstertüte kaufte.
Sie bezahlte und verließ den Laden, riss die Tüte auf, schob sich ein Marshmellow in den Mund und stieg in ihren Wagen.
Sie fühlte sich trotz der Sorge um ihren Vater überraschend gut, ja sogar beinahe glücklich. Nach über vier Monaten hatte sie die Dämonen erfolgreich besiegt, und nach den ersten Fuhrenwar ihr, als sei sie nie weg gewesen. Wenn Doktor Brunner mich jetzt sehen könnte, dachte sie und legte die Tüte auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an.
Mit den Worten »Und wo stehen Sie heute auf der Skala zwischen 0 und 9 bei der Lösung Ihres Problems?« begann die Psychotherapeutin regelmäßig ihre 50 Minuten dauernde, einmal pro Woche stattfindende Sitzung. Wochenlang hing Chris bei der 4 fest und konnte sich nicht vorstellen, auf ihre Einstiegsfrage jemals »Bei der 9« zu antworten, was der Lösung ihres Problems gleichkam. Doch dann war ihr nach einer wochenlangen Phase der Selbstzweifel und Stagnation, in der sie das Bild des Unbekannten, der ihr sein Messer an die Kehle und von hinten die Hand auf die Brust gelegt hatte, einfach nicht losgeworden war, der Durchbruch geglückt. Sie begriff, dass es für sie nur dann eine Zukunft geben konnte, wenn sie bereit war, das Ereignis, so traumatisierend es auch für sie gewesen sein mochte, als festen unauslöschlichen Bestandteil dieser Zukunft zu akzeptieren, als Teil ihres weiteren Lebens. Erst dann würde es ihr möglich sein, es zu vergessen. Sie wehrte sich nicht länger gegen die in ihr aufsteigenden Erinnerungen, und eines Morgens stellte sie überrascht fest, dass es ihr besserging.
Dem süßen Geschmack der Marshmellows auf ihrer Zunge folgend, hing sie ihren Gedanken nach. Doch die Stimme aus der Funkzentrale riss sie jäh heraus.
»Zentrale an Zwodoppelvier.«
»Zwodoppelvier an Zentrale, was gibt’s?«
»Wo sind Sie?«
»Martinistraße, Ecke Balgebrückstraße«, antwortete sie und angelte ein weiteres Marshmellow aus der aufgerissenen Tüte.
»Kundschaft in der Charlottenstraße 12, klingeln bei Schwarze, zweites OG.«
»Verstanden, Zentrale. Und Ende, Zwodoppelvier«, antwortete sie und schaltete sich ab. Sie legte den ersten Gang ein, bogin die Balgebrückstraße ein und fuhr in Richtung Östliche Vorstadt. Von ihrem Standort aus war die Charlottenstraße keine fünf Fahrminuten entfernt. So, dachte sie, kann es weitergehen. Und das Verlangen, auch in der nächsten Stunde, am nächsten Tag und in der nächsten Woche glücklich zu sein, ergriff sie plötzlich wie die unstillbare Sehnsucht nach einer imaginären Heimat.
Wirklich glücklich, dachte sie, würde sie endlich etwas aus ihrem Leben machen: Sie würde die richtigen Entscheidungen treffen, an gute Freunde Briefe voller Leidenschaft und Wärme schreiben, in ihrer Küche Kaffee trinken und bei der Arbeit pfeifen. Doch das Beste von allem wäre, dass sie nicht mehr zittern würde, wenn ein Unbekannter zu ihr in den Wagen stieg, sie an einer nächtlichen Bushaltestelle ansprach und um Feuer bat oder sie im Kaufhaus im Gewühl der Menschen zufällig mit dem Arm an der Brust streifte. Sie würde nie, nie wieder zittern.
Jahrelang versuchte sie erfolglos, sich auf irgendeine Weise mit der Realität ihres nicht zuletzt von den wiederkehrenden Streitigkeiten der Eltern geprägten Lebens zu arrangieren. Sie hätte nicht sagen können, wann der Kampf um einen eigenen Standpunkt begonnen hatte, diese Suche nach einem erträglichen Gleichklang. Manchmal träumte sie davon, die Welt, die sie lange bloß als chaotisch und feindselig empfunden hatte, würde sich unter ihrem Blick zu einem Ganzen ordnen und endlich einen Sinn ergeben.
Im Alter von 14, als ihre Scham sich bereits mit goldbraunen
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