Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Haaren bedeckte und ihre Brüste sich zu straffen mandaringroßen Gebilden rundeten, war quasi über Nacht, begleitet von periodischen Stimmungsschwankungen, ein derartiges Maß an Chaos in ihr Leben getreten, dass sie glaubte, nie mehr den Überblick zurückgewinnen zu können. Das Chaos der Kindheit hatte dem des Erwachsenenlebens Platz gemacht.
Daran musste Chris denken, während sie in die Charlottenstraßeeinbog und vor dem Haus mit der Nummer 12, einem dreigeschossigen, rostroten Klinkerbau, anhielt, der hinter einer mannshohen Ligusterhecke verborgen lag. Sie stieß das grüne Metallhoftor auf, nahm die fünf Treppenstufen und drückte dreimal kurz hintereinander auf den Klingelknopf neben dem Namensschildchen, auf das jemand mit Kugelschreiber in Druckbuchstaben M. SCHWARZE geschrieben hatte. Dann ging sie zurück zu ihrem Wagen, stieg ein und drehte das Radio an. Es liefen die »American Top 40« mit Casey Kasem. Und in der feuchtwarmen Treibhausluft des Wagens keimte eine Idee in ihrem Hirn.
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Kölner Stadt-Anzeiger
Vor aller Augen. Täter kamen mit Waffen und Kokain.
Selten hat ein kriminelles Ereignis die Menschen in der Bundesrepublik so erregt wie das Geiseldrama, das in Gladbeck begann. Zum Vergleich bietet sich vielleicht nur das Blutbad während der Olympischen Spiele 1972 in München an. Ein Millionenpublikum schaut zu.
Seine Mutter, die ihn (das Gefühl hatte er jedenfalls bis zuletzt gehabt) insgeheim immer für einen Aufschneider gehalten hatte und ihn spürbar weniger liebte als seine drei Jahre jüngere Schwester, hatte ihn, nachdem Ricarda im Alter von zwölf Jahren nach kurzer schwerer Erkrankung an Diphtherie gestorben war, angefleht, sie nicht auch noch zu verlassen, indem er unüberlegt Drogen nahm und womöglich daran starb, zu schnell mit seinem Moped, einer metallicblauen Zündapp C 50 Super-441, Baujahr 1976, fuhr und gegen einen Baum knallte. Oder im Alkoholrausch sein junges Leben sonst wie aufs Spiel setzte.
Die Mutter saß ihm damals mit beschwörendem Blick am Küchentisch ihrer Gröpelinger Wohnung gegenüber und hielt seine Hände. Er musste ihr versprechen, sämtliche Risiken, die sein Leben gefährden konnten, tunlichst zu meiden und stets bei allem, was er tat, zu bedenken, dass sie einen zweiten Verlust nicht überleben würde.
Ahrens, der von jeher ein besseres Verhältnis zu seinem Vater gehabt hatte, schwor ihr damals, sie nicht zu enttäuschen, und dachte sich zunächst nichts mehr dabei. Doch wann immer ihn später Freunde dazu anhielten, mit ihnen zu rauchen, zu trinken oder mit ihnen zu kiffen, meldete sich augenblicklich in seinem Hinterkopf die mahnende Stimme seiner Mutter, und er schlug die Einladungen so lange erbittert aus, bis er eines Tages betrübt feststellen musste, dass ihn die Rücksichtnahme auf seine Mutter zu einem Außenseiter gemacht hatte.
Doch dann entdeckte er zum Glück das Laufen. Die ungezählten Stunden, die er auf der verwitterten, welligen Tartanbahn hinter dem alten Schulgebäude, in dem er seine mittlere Reife erlangte,zubrachte und das Vierhundertmeteroval umkreiste, entschädigten ihn für alle ausgeschlagenen Joints, Lord Extras und Jim Beam Colas. Denn dort lernte er, wenn er in der Dämmerung einsam seine Runden gegen die Stoppuhr lief, das Glück und die Räusche der Einsamkeit kennen, das Gefühl, irgendwann, wenn er nur lange genug aushielt, leicht zu werden und davonfliegen zu können wie ein flügge gewordener Adler.
Daran musste Peter Ahrens denken, als er seinen Blick zum wiederholten Mal ganz langsam und so, als müsse er sich jedes einzelne Detail genau einprägen, um es nie mehr zu vergessen, über die Züge des keinen Meter von ihm entfernt dastehenden Mannes gleiten ließ.
Er dachte an Ricarda, die er bis an sein Lebensende als die Zwölfjährige in Erinnerung behalten würde, die ihn, als er damals an ihrem Bett saß, wenige Stunden vor ihrem Tod plötzlich mit letzter Kraft an sich gezogen hatte, ihren Mund auf sein linkes Ohr presste und ihm etwas zuflüsterte. Er verstand sie nicht und wollte nachfragen. Als er sich aus ihrer Umarmung gelöst hatte und sie fragend ansah, war sie bereits von ihnen gegangen in jene Räume, aus denen es für sie keine Rückkehr mehr geben sollte und in die sie ihr Geheimnis für immer mitgenommen hatte.
Und er dachte an seinen fünf Jahre zuvor völlig überraschend vor dem laufenden Fernseher verstorbenen Vater, der, wenn er ihn hier und jetzt sehen könnte, sicher stolz auf
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