Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Zucker gesüßten Espresso.
»Lass uns zahlen, Baby«, brummte er plötzlich und angelte nach der Brieftasche, die in der Innentasche seines über der Stuhllehne hängenden Sakkos steckte.
»Jetzt schon?«, erwiderte sie unwillig. »Aber ich hab ja noch nicht mal meine Zabaione aufgegessen. Und eigentlich möchte ich auch noch einen Espresso.«
Kirchner ließ das Kinn sinken und nippte an seinem warm gewordenen Wein. Er hasste Zabaione. Wurde die nicht mit rohen Eiern zubereitet?
»Deine Unruhe ist wirklich kaum auszuhalten«, sagte Barbara.
»Ich muss noch mal versuchen, Steinwald in Bremen zu erreichen, ich muss wissen, was da los ist. Dieses Nichtstun macht mich noch ganz verrückt«, sagte er, erhob sich und ließ achtlos einen Fünfzigmarkschein auf den Tisch fallen.Im Polizeihaus am Wall in Bremen brach in diesen Minuten die Technik zusammen. Die Elektronik gab den Geist auf, es herrschten chaotische Zustände. Die Mithöranlage für Telefongespräche funktionierte nicht mehr, und direkt nach draußen telefonieren konnten die Führungsbeamten, unter ihnen Steinwald, ebenfalls nicht mehr. Jedes Gespräch musste über die Vermittlung angemeldet werden.
Als der gekaperte Bus später die Raststätte Grundbergsee anfährt, kommen die Funksprüche meist nur noch verstümmelt oder gar nicht mehr an. Befehle und Anfragen sind kaum noch voneinander zu unterscheiden. Ein folgenschwerer Umstand, wie die späteren Ereignisse vor Ort zeigen sollten.
»Rolf, bitte«, sagte Barbara und ließ ihren Löffel in die Zabaione sinken. Kirchner konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Dann zog sie ruppig ihre Serviette hervor, tupfte sich den Mund ab und warf sie neben ihren Teller. »Ach, verdammt.«
Im Hinausgehen kam ihnen Beppe, der Pächter des Restaurants, entgegen, stellte sich Kirchner in den Weg und sah ihn mit gespielter Empörung an: »Dottore? Sie gehen schon? Hat es Ihnen etwa nicht geschmeckt?« Dabei suchte er, an Kirchner vorbei, Barbaras Blick, als stünde in ihren Augen die Antwort auf seine Frage.
»Alles bestens«, wiegelte Kirchner ab, verpasste dem kleinen Mann einen jovialen Klaps auf die Schulter und drängte an ihm vorbei nach draußen.
Als sie im Wagen saßen und Barbara den ersten Gang einlegte, sah er sie entschuldigend an und sagte: »Ich krieg’s einfach nicht aus dem Kopf.« Und plötzlich, in der Enge des Wagens, fühlte er sich sekundenlang wieder wie damals, wenn er als kleiner Junge in der Hombrucher Wohnung seiner Großmutter zwischen Wasserkästen und Vorratsgestell in der Speisekammer saß, in »Rolfis Gefängnis« saß und darauf wartete, dass ihn jemand aus seinem selbstgewählten Kerker und von seiner Angst befreite.
»Schon gut«, antwortete sie und rangierte den Wagen aus der Parklücke. »Aber meine Zabaione hättest du mich schon noch zu Ende essen lassen können.«
»Ja, stimmt«, erwiderte er kleinlaut und schob den rechten Arm aus dem geöffneten Fenster. Und dann fuhren sie durch die warme Nacht, hinein in die blendenden Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge, ohne dass sie ein Wort sprachen. Aus den Boxen im Fond erklang »Seven Wonders« von Fleetwood Mac, Barbaras momentaner Lieblingssong, dessen Bassrhythmus sie mit dem Daumen auf dem Lenkrad mittrommelte.
Einmal glaubte er, als sie an einer roten Ampel zum Stehen kamen, den wegen der Dauerhitze erhöhten Puls der Stadt spüren zu können. Bis er begriff, dass das dumpfe, niederfrequente Wummern aus dem Wagen neben ihnen kam, einem aufgemotzten dunklen Golf GTI, in dem zwei junge Männer saßen, die trotz der Dunkelheit verspiegelte Sonnenbrillen trugen.
Früher, als er noch Streife fuhr, hätte er die beiden aus ihrem Fahrzeug geholt und ihnen eine seiner berüchtigten Lektionen in Sachen Straßenverkehrssicherheit erteilt. Früher. Er musste Steinwald erreichen.
***
Trotz des vom operierenden Arzt hinterher als zufriedenstellend bezeichneten Eingriffs (»Es war, als hätte man Zuckerwatte vernäht«) war Pauls Temperatur plötzlich dramatisch angestiegen. Fiebersenkende Maßnahmen waren zwar umgehend ergriffen worden, doch der sowohl durch den operativen Eingriff als auch die Antibiotikatherapie geschwächte Gesamtorganismus sprach nur unzureichend auf die eingeleiteten Maßnahmen an. Ein plötzlicher Herzstillstand war nun nicht mehr auszuschließen. Pauls Zustand wurde als akut lebensbedrohlich eingestuft.
***
Der Minutenzeiger der Uhr am Eingang des Kinderkrankenhauses Amsterdamer Straße
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