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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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rückte auf 26 Minuten nach acht vor, und Thomas Bertram, der den ganzen Tag außer Kaffee nichts zu sich genommen hatte, spürte, wie das Getränk seine toxische Wirkung zu entfalten begann.
    Seine Arme und Beine kribbelten, als signalisiere der Ausfall erster Nervenzellareale infolge einer idiopathischen Polyneuropathie den finalen, alles entscheidenden Schlag gegen sein angeknackstes peripheres Nervensystem. Zudem schwappte ihm in intervallartigen Schüben Magensäure in die Speiseröhre, was ein fieses Brennen zur Folge hatte. Gleichzeitig meinte er alles mit einer geradezu schmerzhaften Überschärfe wahrzunehmen. Seine Augen brannten, und am ganzen Körper registrierte er ein nicht nachlassendes Jucken. Bertrams Akku war leer und kurz davor, den Geist aufzugeben.
    Seit nunmehr 40 Stunden bangten sie um das Leben ihres Sohnes. Amina war inzwischen in eine Art katatonische Starre verfallen. Sie lag wie festgeschnallt auf ihrem Bett und hatte das Abendessen, zwei mit Käse und Bierschinken belegte Scheiben Sauerteigbrot, eine Tasse Hagebuttentee sowie einen Danone-Diätjoghurt Aprikose, bisher nicht angerührt. Ausgelaugt wie zwei Boxer, die in zwölf mörderischen Runden an die Schmerzgrenze und darüber hinausgegangen waren, kauerten sie in ihren Ecken: Amina auf ihrem Bett und Bertram auf dem Besucherstuhl. Apathisch starrte er auf die Monde seiner Fingernägel und malte sich aus, wie wohl eine gemeinsame Zukunft für sie alle aussähe, sofern sie die fürchterliche Prüfung, die ihnen auferlegt worden war, bestanden. Dabei lag die alles entscheidende zwölfte und über Sein oder Nichtsein entscheidende Runde ja noch vor ihnen.
    Die Begegnung mit Sirvan in der Herrentoilette erschien ihm plötzlich seltsam unwirklich, wie geträumt.
    Neben dem Stuhl, auf dem Boden, lag die Bildzeitung. Zumx-ten Mal las er die fettgedruckten Worte »Drama« und »Geiselgangster«, als die Tür aufging und die diensthabende Schwester das Zimmer betrat, eine in den Hüften auffallend kräftige Person.
    Anfangs waren sie bei jedem Geräusch, das auf dem Flur laut wurde (näher kommende Schritte, die vor ihrem Zimmer verhielten, oder Stimmen, die bedrohlich klangen und plötzlich verstummten) zusammengezuckt, gelähmt von der Angst, draußen stehe der Überbringer der alles entscheidenden Nachricht. Doch als nun die Schwester im Zimmer vor ihnen stand und sie abwechselnd ernst ansah, blickten sie bloß noch auf wie zwei Dösende in einem spätnachmittäglichen Zugabteil.
    Die Hände der Frau ballten sich zu Fäusten, dann trat sie an Aminas Bett, räusperte sich und sagte: »Da sich die Situation Ihres Sohnes leider dramatisch verschlechtert hat, haben wir die hauseigene Seelsorgerin, Frau Gadient, gebeten, sich für eine Nottaufe Ihres Kindes bereitzuhalten.« Sie ließ ihren Blick nun abwechselnd zwischen ihnen hin- und hergehen. »Oder haben Sie Einwände dagegen? Ich meine, Sie möchten doch sicher, dass Ihr Kind, sollte es sterben, was wir natürlich alle nicht hoffen, anschließend ordentlich beerdigt werden kann?«
    Nun, da sie gesagt hatte, was zu sagen gewesen war, öffneten sich ihre Fäuste, und sie faltete die Hände vor dem Bauch. Aminas Hände, die auf der Bettdecke lagen, zitterten.
    Am liebsten wäre Bertram aufgesprungen und aus dem Zimmer gelaufen, irgendwohin, wo er allein war und seinen Schmerz, die Wut und die Trauer, die in seinem Innern wüteten, aus sich herausschreien konnte. Doch er starrte nur wie hypnotisiert auf die Hände der Krankenschwester. So, als müssten sie jeden Moment auf ihn zuschweben und sich ihm, gegeneinandergeschoben, darbieten wie ein mit Chloroform getränktes Kissen, in das er sein Gesicht pressen konnte, um sich zu betäuben.
    Er hatte sich manchmal, in Momenten grenzenloser Selbstüberschätzung,gewünscht, das Schicksal möge ihn in den Mittelpunkt eines Dramas rücken, eines Unfalls, einer Krankheit oder eines sonst wie gearteten Unglücks, das ihn zum Adressaten menschlicher Anteilnahme und nicht nachlassenden Trostes machte. Nun fand er sich mittendrin in einem solchen Drama. Doch von Anteilnahme oder Trost keine Spur.
    Amina hob die linke Hand vors Gesicht und begann sich, wie von Stromstößen durchzuckt, zu schütteln. Tränen rannen ihr übers Gesicht, und mit Blick auf die vor ihr stehende Krankenschwester rief sie: »Ich will zu meinem Kind!«
    ***
    »Die Täter lernen nicht aus den Fehlern, die andere vor ihnen gemacht haben«, sagte der frühere LKA-Chef Dr. Gerald

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