Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Sikorski selbstgefällig und blinzelte, von den Studioscheinwerfern geblendet, in die auf ihn gerichtete Kamera 1. »Die haben offenbar nicht mitbekommen, dass sämtliche Geiselnahmen bisher schiefgegangen sind. Alle Geiselnahmen haben mit der Festnahme der Täter geendet. Die Aufklärungsquote liegt bei neunzig Prozent.«
Sikorski war der Einladung ins »Nordschau«-Studio nur widerwillig gefolgt. Jahrelang widmete er sich dem Kampf gegen die organisierte Kriminalität, und am Ende, als man ihn nach 36 Dienstjahren in den Ruhestand entließ, konnte er auf eine durchaus erfolgreiche Amtszeit als LKA-Chef zurückblicken. Dass man ausgerechnet ihn aus einer Sitzung des vor Jahren von ihm ins Leben gerufenen Ausschusses für eine radfahrerfreundlichere Stadt herausholte, nur um das ohnehin zum Scheitern verurteilte Vorgehen zweier minderbemittelter Geiselgangster zu kommentieren, statt einen in die aktuellen Geschehnisse involvierten Kollegen ins Fernsehstudio zu bitten, behagte ihm überhaupt nicht. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, noch anzufügen: »Es ist sicherlich neu, dass man als Fluchtfahrzeug einen Bus kapert.«
Am Studiotisch ihm gegenüber saß Bremens SenatspräsidentEberhard Wilke, griff sich in die zuvor von irgendeiner Maskenbildnerin flüchtig mit Spray fixierten Haare (die sich nun anfühlten wie Stahlwolle) und verfolgte mit leicht zusammengekniffenen Lidern seine Ausführungen. Zwischen ihnen saß Ellen Pander, die an diesem Abend die »Nordschau« moderierte.
Ellen Pander war eine ehemalige Miss Niedersachsen und für Sikorskis Geschmack sichtlich in die Jahre gekommen. Sikorski, dem lange der Ruf eines Womanizers vorausgeeilt war, hatte ihr in früheren Jahren ein paarmal an gleicher Stelle in seiner Funktion als LKA-Chef gegenübergesessen. Nun starrte er irritiert auf die Fältchen um ihren Mund und ihre Augen, in denen das zimtbraune Make-up-Puder klebte wie lieblos an eine rissige Hauswand geschleuderter Speis.
Am äußersten Tischrand zu seiner Linken saß Panders Mitarbeiter Jens Fröhling vor einem steingrauen Telefon und studierte seine Unterlagen, als sich plötzlich Kamera 2 wie ein gelangweiltes riesiges Insekt ihm zuwandte, das Rotlicht ansprang und der Mann mit dem braunen, nackenlangen Haupthaar seinen Kopf hob und sagte: »Inzwischen sind fünf Geiseln in der Hand der Geiselnehmer. Sie wollen einen schnellen Fluchtwagen haben, in dem für alle Platz ist.«
4 Kilometer Luftlinie von der kleinen Nordschau-Experten-Runde in der Diepenau 10, unweit der Weserpromenade, entfernt stand Hans-Jürgen Rösner auf der untersten Stufe des vorderen Buseinstiegs und sah hinüber zu den hinter parkenden Fahrzeugen und Mauervorsprüngen verschanzten Polizisten. Verdammte Feiglinge, dachte er und blickte zum Himmel, der sich wie eine hellgraue Plane über das Viertel gebreitet hatte.
Plötzlich trat ein Betrunkener vor den Bus und rief: »Du Arsch, was machst ’n du hier? Haste was zu rauchen?« Rösner hielt ihm eine halbvolle Schachtel West hin, und der Alte zog ab.
Mechanisch zog Rösner an seiner Zigarette und stieß denRauch zwischen den Zähnen hindurch. Dabei ließ er seinen Colt langsam nach vorn kippen. Vor wenigen Minuten hatte er einen Schwerbehinderten, der ihm zitternd seinen Ausweis hinhielt, und eine alte Frau freigelassen. Als ihn immer mehr Leute bedrängten und um ihre Freilassung bettelten, riss er den Colt hoch und brüllte in die Tiefe des Busses: »Jetzt kommt keiner mehr raus!«
Drüben stand dieser Peter Ahrens in seinem leuchtend weißen Leinensakko, umringt von Fernsehleuten, die ihre Kameras auf ihn gerichtet hielten, und verkündete, was er ihm wenige Minuten zuvor aufgetragen hatte:
»Die fordern jetzt ein Fahrzeug, und zwar eins, das nicht mit Wanzen bestückt ist, sondern eins hier, das von den Pressekollegen zur Verfügung gestellt werden kann.« Dabei deutete er auf eines der rechts am Straßenrand abgestellten Autos. »Dann fordern sie, dass ein Polizist, ohne Waffe, mit Händen auf dem Rücken gefesselt, für eine weitere Geisel zur Verfügung gestellt wird. Im Austausch der ganzen Geiseln, die jetzt im Bus sind.«
»Und dann wollen sie die Leute im Bus freilassen?« erwiderte der »Nordschau«-Reporter.
»Ja, dann wollen sie die Leute freilassen. Und dann ist auch Ruhe«, antwortete Peter Ahrens und strahlte übers ganze Gesicht. »So, jetzt muss ich noch einen von der Kripo finden. Ist gar nicht so einfach hier.« Dann machte er sich von den
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