Ein deutscher Wandersommer
habe ich am Schaalsee Eltern gesehen, die ihre Kinder shampooniert und eingeseift ins Wasser schickten.
In dem kleinen Ort Techin, heute durch den nahen Autobahnanschluss bei Zarrentin, von wo es nur ein Katzensprung nach Hamburg ist, mehr oder weniger in westdeutscher Hand – wie so viele Orte am Schaalsee, beispielsweise auch das ein Stück weiter nördlich gelegene Lassahn –, kamen wir in einen verwunschenen Garten. Anders kann man es wirklich nicht sagen. Der gesamte Schaalsee ist wunderschön; im Winter, wenn die Winde wehen und es kalt und grau ist, ist das bestimmt anders, aber jetzt im Sommer war es einfach nur herrlich. Und Techin ist ein besonders hübscher und lieblicher kleiner Ort. Der Hof von Frau Jahns aber war ein kleines Himmelreich auf Erden.
Auf dem Grundstück direkt am See weideten neben Wohnhaus und Stall ein paar pommersche Landschafe. Ein uralter Nussbaum spendete ausladenden Schatten. Zwischen den Blättern etlicher Obstbäume lugten Früchte hervor. Der Gemüse- und Kräutergarten ließe mit seiner Vielfalt das Herz eines jeden Vegetariers höher schlagen. Und um das Ganze abzurunden, setzten Blumen, darunter prächtige Dahlien, bunte Farbtupfer.
»Mensch, Cleo«, sagte ich zu meinem Hund, »da geht einem richtig das Herz auf.«
Als ich Frau Jahns um Wasser für mich und Cleo bat, lud sie uns zu Kaffee und Kuchen auf ihre Hollywoodschaukel ein, die mitten in diesem idyllischen Garten stand und einen atemberaubenden Blick auf den See bot.
Nora Jahns stammte, was an ihrem Dialekt noch gut zu hören war, ursprünglich aus Ostpreußen. Das machte mich neugierig, und so erzählte sie mir ihre Geschichte.
Frau Jahns kommt aus Trakehnen, heute Jasnaja Poljana, im Kaliningrader Gebiet, Nordwestrussland. Bekannt wurde der Ort durch das daran angrenzende Hauptgestüt, auf dem bis 1944 die berühmten Trakehner gezüchtet wurden. Einige wenige Pferde gelangten mit der großen Flucht, die im Winter 1944/45 mit dem Zusammenbruch der deutschen Ostfront einsetzte, in den Westen und bildeten den Grundstock für neue Zuchtgestüte. Trakehner sind bis heute eine der bedeutendsten deutschen Reitpferderassen – wunderschöne und gleichzeitig robuste Warmblüter.
Diese große Flucht – und die daran anschließende Vertreibung – kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Millionen von Menschen, allein geschätzte 2,4 Millionen aus Ostpreußen, zogen damals in riesigen Trecks gegen Westen, zumeist mitten im Winter bei Temperaturen von bis zu minus 25 Grad. Zu Fuß mit Handwagen, einige mit Pferdefuhrwerken. Tage und Wochen der Kälte, des Hungers, der Angst vor sowjetischen Angriffen. Als der Landweg durch die Rote Armee abgeriegelt wurde, blieb nur noch der Weg über die Ostsee. Hunderttausende kamen bei der Flucht ums Leben – erfroren, verhungert, ermordet –, allein über 9000, als die Wilhelm Gustloff nach drei Torpedotreffern eines russischen U -Boots innerhalb einer Stunde sank, die größte Katastrophe der Seefahrtsgeschichte. Zum Vergleich: Beim wohl berühmtesten Schiffsunglück, dem Untergang der Titanic, verloren »nur« 1500 Menschen ihr Leben.
Frau Jahns Eltern schoben die Flucht immer wieder hinaus, bis sie die letzten Deutschen in Trakehnen waren. Erst 1946 machten sie sich auf den langen Weg nach Westen. Die Mutter starb noch während der F lucht nach mehreren Vergewaltigungen. Am Schaalsee, in der russisch besetzten Zone, lernte Frau Jahns ihren späteren Mann kennen und blieb.
Die Gegend war in den ersten Nachkriegsjahren bitterarm, an allem herrschte Mangel. In der ersten Zeit, so erzählte Frau Jahns, hatten sie für den gesamten Hof nur eine einzige Glühbirne. Wenn sie und ihr Mann morgens zum Kühemelken und Stallausmisten gingen, schraubten sie die Glühbirne aus der Lampe in der Küche und nahmen sie mit in den Stall. Danach wanderte die Glühlampe wieder in die Küche. Unglaublich.
Des Öfteren fuhren sie und ihr Mann wie viele andere zum Einkaufen mit dem Boot über den See in die britische Besatzungszone. Das war zwar verboten, und das Angebot im Westen war zumindest in der Anfangszeit nicht viel größer, trotzdem machte es fast jeder. Und zwar weit über den Bau der Berliner Mauer hinaus. Zunächst wurde nämlich nur weiter im Norden, wo das Seeufer die Grenze bildete, der Zaun errichtet; erst Anfang der 1970er-Jahre wurden auch die Uferabschnitte, an denen die Grenze mitten im See lag, wie bei Techin, durch einen Zaun »gesichert«.
Ich überlegte, wie das wohl
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