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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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gesehen – mit einem bis zu fünf Kilometer tiefen Sperrgebiet, einem ersten Kontrollstreifen und einem Grenzsignalzaun. Danach kamen ein etwa fünfhundert Meter breiter Schutzstreifen, Lichtsperren, der Kolonnenweg für schnelle Truppenbewegungen, ein weiterer Kontrollstreifen, Kfz-Sperrgräben, die selbst mit einem Panzer nicht zu überwinden gewesen wären, und schließlich die Minen sowie die Selbstschussanlagen am Metallstreckzaun. Bei alledem galt es, ungesehen an Bunkern und Türmen vorbeizukommen.
    Selbstschussanlagen waren Splitterminen des Typs SM -70; es gab ja für alles und jedes diese seltsamen Militärabkürzungen. Die SM -70 wurden durch einen Draht ausgelöst, der eine Sprengladung aktivierte, die um die hundert scharfkantige Geschosssplitter ausstieß. Das bedeutete: Wenn man Sperrgebiet, Sperrgraben, Kontrollstreifen und so weiter überwunden und kein Schäferhund oder Riesenschnauzer einen in Stücke gerissen hatte, hat man vielleicht am allerletzten Hindernis, dem Metallstreckzaun, einen unscheinbaren Draht berührt und die Selbstschussanlage ausgelöst. Ihre Reichweite war auf 120 Meter ausgelegt, in direkter Nähe war die Wirkung tödlich.
    Um die Behauptung zu widerlegen, es gäbe an der innerdeutschen Grenze keine Selbstschussanlagen, überwand Michael Gartenschläger 1976 zwei Mal den Metallstreckzaun und montierte je eine SM -70 ab, die er mithilfe des Spiegel der Öffentlichkeit präsentierte . Michael Gartenschlägers Leben war vom Kampf gegen das DDR -Regime geprägt. Im Alter von 17 war er wegen »staatsgefährdender Propaganda und Hetze sowie der Diversion« zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden. 1971, nach fast zehn Jahren Haft und gesundheitlich stark angeschlagen, wurde er von der BRD freigekauft. In den folgenden Jahren wirkteer bei Fluchthilfen für 31 Menschen mit. Sechs Personen schleuste er persönlich durch den Eisernen Vorhang, wobei er jedes Mal sein Leben, zumindest aber seine Freiheit riskierte. Bei einer dieser Fluchten wurde er in Jugoslawien aufgegriffen, allerdings nach mehreren Wochen Haft in den Westen abgeschoben. Als er im Mai 1976 zu Beweiszwecken eine dritte Splittermine an der innerdeutschen Grenze auslösen wollte, wurde er ohne Vorwarnung von einer Spezialeinheit erschossen. Ein IM der Stasi hatte ihn verraten. Michael Gartenschläger wurde nur 32 Jahre alt.
    Als ich in Niedersachsen »Dienst tat« und Berufsjäger lernte, war die östliche Grenze des Reviers gleichzeitig Zonengrenze. Viele Bundesbürger dachten, sie könnten zum Pilzesammeln bis an den Metallstreckzaun herangehen, weil sie nicht wussten, dass das bundesdeutsche Gebiet bereits 25 Meter davor an den Grenzpfählen endete. Und manche hörten dann plötzlich neben sich eine Stimme: »Hände hoch! DDR -Grenzaufklärer. Sie sind verhaftet.« Sie wurden dann abgeführt – ganz legal, denn es lag ja eine Grenzverletzung vor –, bekamen ein Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts an den Hals und mussten oft für relativ viel Geld von ihren Verwandten ausgelöst werden. Diese Grenzaufklärer, besonders linientreue Genossen, durften allein auf Streife gehen und, das ist hier der entscheidende Punkt, die Durchlässe im Metallstreckzaun benutzen.
    Es gibt verbürgte Fälle, dass »Republikflüchtige«, denen es wie durch ein Wunder gelungen war, sämtliche Sperren zu überwinden, und die dann, durch eine Mine oder eine Selbstschussanlage schwer verletzt, jenseits des Metallstreckzauns zusammengebrochen waren, von Grenzaufklärern durch einen der Durchlässe zurückgezogen wurden. Andere sind auf den letzten 25 Metern in die Freiheitelendig verblutet, weil auf westdeutscher Seite keiner die Flucht mitbekommen hatte oder wenn doch, sich nicht getraute, den Verletzten die letzten Meter in Sicherheit zu bringen. Da haben sich wahre Tragödien abgespielt, die für die junge Generation heute unvorstellbar sind.
    Aus Sicht der DDR war der Mauerbau ein Muss. Von der Gründung der DDR im Jahr 1949 bis zum 9.November 1989 verließen von den durchschnittlich 17 Millionen DDR -Bürgern insgesamt etwa drei Millionen das Land – davon knapp 2,7 Millionen bis zum Bau der Mauer. Diese Massenflucht verursachte in den Augen der DDR -Regierung einen enormen ideologischen Schaden, da die ausreisenden Bürger die angebliche Überlegenheit des »real existierenden Sozialismus« leugneten; sie schadete dem außenpolitischen Ansehen und – vor allem durch den Verlust von Ingenieuren, Lehrern, Wissenschaftlern oder

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