Ein deutscher Wandersommer
Forschern – nicht zuletzt der Wirtschaft. Das Land blutete langsam aus. Im Prinzip passierte in den ersten Jahren der DDR dasselbe wie nach dem Fall der Mauer, als die Ostdeutschen in Massen in den Westen strömten, wo die Gehälter höher, das Leben besser und einfacher war. Wie wir wissen, wären die neuen Bundesländer heute noch allein nicht lebensfähig. Rein rechnerisch gesehen sind sie ein Massengrab für Steuergelder.
Die DDR war und ist für viele Bürger der alten Bundesländer ein völlig undurchschaubares und vor allem unverständliches Lebens- und Staatssystem. Sie war verbunden mit Mangelwirtschaft, Diktatur, Bedrohung, Stasi …
Ich habe beide Seiten kennengelernt. Ich bin durch meine Kindheit und Jugend in Gotha und Jena »gelernter DDR -Bürger«, wie ich mich immer bezeichne, war aber, als ich in die BRD kam, noch jung genug, um Wessi zu werden. Ich finde das Leben in der DDR , jetzt und im Rückblick, eigentlich gut. Man macht ja immer den Fehler zu romantisieren, wenn man älter wird. Das Schlechte verdrängt man, das Gute, die positiven Erlebnisse und Erfahrungen behält man im Gedächtnis. Das gilt selbst für die Generation des Zweiten Weltkriegs. Trotz Vertreibung, Vergewaltigung, Tod, Flucht und Bombardements erzählen viele ältere Menschen positiv von ihrer Kindheit. »Ach damals im Egerland, in Schlesien …« Ich höre meine Großmutter immer noch die Geschichten erzählen. Hier in der Eifel sagen die Leute: »Ach, war das gut, als die Autobahn [2] kam.« Oder: »… als hier die Raketenstellung [3] gebaut wurde, da hatten alle Arbeit.« Man möchte dann sagen: »Ey, hallo, das Nachbardorf ist eingeäschert worden, diese V 1 sind doch beim Start ständig runtergefallen.« Im Nachbarort Tondorf gabes einen Spruch: »Leute, nehmt die Köpfe weg, es kommt V 1, der Eifelschreck.« Viele Raketen waren ja von den KZ -Häftlingen, die sie bauen mussten, sabotiert worden und haben, glaube ich, unter der deutschen Zivilbevölkerung mehr Schaden angerichtet als beim Feind.
Die frühe DDR war für mich kein schlechtes Land, wir waren glücklich als Kinder – das muss man ganz klar sagen. Als ich in der zweiten Klasse Jungpionier wurde und ein weißes Hemd sowie das charakteristische blaue Halstuch bekam, das nur zu besonderen Anlässen getragen wurde, platzte ich fast vor Stolz. Desgleichen, als mir Pjotr, ein russischer Schulfreund – es gab ja überall russische Kasernen und in Gotha unter anderem eine große Panzergarnison –, sein rotes Halstuch schenkte. Natürlich haben wir Kinder Panzerfahrer und Ähnliches gespielt, aber waren wir deswegen kleine Militaristen? Schließlich spielen ja auch westdeutsche Kinder mit Panzern, Gewehren oder mit irgendwelchen Waffen aus Science-Fiction-Filmen.
Dazu kam noch eine andere Sache. Mein Vater hatte sich sehr zeitig von uns getrennt, ich war damals sieben Jahre alt. Als er weg war, hat meine Mutter ihre Attraktivität und ihren »Marktwert« bei Männern entdeckt, und das lebte sie aus. Montags und dienstags kam Onkel Horst; mittwochs Onkel Peter, direkt aus der SED -Kreisverwaltung, daher immer in Anzug mit Parteiabzeichen am Revers. Am Freitag besuchte uns manchmal Onkel Heinz und am Wochenende Onkel Tommi. Onkel Tommi hatte immer Zeit, denn er war Baustudent und hatte keine andere Freundin oder Frau, während die anderen alle verheiratet waren.
Dieser rege Besucherandrang endete fast schlagartig, als Wolodja, ein Offizier der Roten Armee, in das Leben meiner Mutter trat. Wolodja sah umwerfend gut aus, ein junger, hochgewachsener, durchtrainierter, schwarzhaariger Ukrainer vom Schwarzen Meer, aus der Umgebung von Odessa. Ein Bild von einem Südländer, genau das, worauf viele Frauen stehen. Wolodja kam immer mit dem Rennrad, lachte erst einmal, gab mir ein Bonbon oder ein Stück Schokolade und verschwand dann mit meiner Mutter im Schlafzimmer.
Meine Mutter war bis über beide Ohren verliebt und schmiedete bald Pläne, mit Wolodja nach Russland zu ziehen. Sie kaufte sich ein Russischbuch und begann Russisch zu lernen, und ich erzählte meinen Kumpels, dass wir ans Schwarze Meer ziehen würden. Viele reagierten erschrocken. »Deine Mutter hat was mit ’nem Russen?« Viele ältere Deutsche hatten noch aus der Zeit des Krieges Aversionen gegen die Russen, was sich auch auf ihre Kinder übertrug. Meine Großmutter war geradezu entsetzt. Sie sagte auch nie »Russe«, sondern immer »der Iwan«.
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