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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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sogar in alle Welt reisen, um Tierfilme über Panzernashörner, Elefanten, Tiger oder Barasingha-Hirsche zu drehen. Mein erstes Buch hieß Kaziranga. Tierparadies am Brahmaputra , ein Text-/Bildband mit sehr körnigen Bildern – aber damals fand ich es phantastisch. Ich war fasziniert von Alaska, dem Himalaja, Zentralafrika, wollte da unbedingt mal hin. In der Pubertät las ich dann gern Bücher von Jack London und Ernest Hemingway, von Robert Service und Mark Twain, den großen Abenteurer-Schriftstellern. Viele dieser Bücher bekam man nur unter dem Ladentisch oder gebraucht. Damals dachte ich, worüber ich da las und was mich so begeisterte und aus der Fassungbrachte, das werde ich nie selbst erleben. Es sei denn, ich werde Spitzensportler, gehe zur Armee oder zur Handelsmarine, um in ferne Länder reisen zu können – oder ich riskiere eine Flucht.
    Ein weiterer Grund für meine Flucht war mein Stiefvater. Als ich elf Jahre alt war, lernte meine Mutter Heinz aus Jena kennen. Heinz war frisch geschieden. Die DDR hatte eine hohe Scheidungsrate, da junge Ehen sehr gefördert wurden, man verschiedene Begünstigungen wie eine Wohnung oder Möbel bekam.
    Als feststand, dass meine Mutter und ich zu Heinz nach Jena ziehen würden, sagte er zu mir: »Ich will deine Mutter, sie ist eine hübsche Frau, aber dich will ich nicht. Bis du 16 wirst, wirst du wohl oder übel bei uns wohnen müssen. Bis dahin wirst du es schwer haben. Mach dich auf einiges gefasst.«
    Heinz hat sich immer damit gerühmt, dass er einen ganz schlauen Hund habe, der unglaublich gut abgerichtet sei. Er hatte den Foxterrier, der gern Bockwurst fraß, erst ein paar Mal richtig verprügelt, ihm dann eine Bockwurst vor die Nase gelegt und »Platz!« und »Pfui!« gesagt. Noch nach zwei Stunden lag der Hund an derselben Stelle, ohne die Bockwurst angerührt zu haben. Er gibt Menschen, die schaffen sich einen Hund nur an, um ihn herumzukommandieren und zu demütigen. Heinz war so einer. Damals habe ich das nicht richtig verstanden, aber wenn ich es mir heute vor Augen halte, wird mir klar, dass Heinz ein echtes Schwein und ein Sadist war. Er hatte dem Hund die Seele gebrochen – und das strebte er mit mir ebenfalls an.
    Sport war gestrichen – ich war damals immerhin Bezirksmeister von Erfurt im Rennradsport. Das Einzige, was mein militaristischer Stiefvater mir erlaubte, war, in die paramilitärische Jugendorganisation »Gesellschaft für Sportund Technik« ( GST ) einzutreten, die »Schule des Soldaten von morgen«. Deren Sinn und Zweck bestand darin, Jugendliche für eine spätere Offizierslaufbahn zu rekrutieren. Ich erhielt dort eine Ausbildung als Fallschirmjäger. Und lernte Dinge, die mir bei meiner späteren Flucht äußerst dienlich sein sollten.
    In den nächsten Jahren war ich für Heinz nichts weiter als ein Arbeitssklave. In meiner Freizeit musste ich ihm in seinem riesigen Garten mit Pfirsich- und Kirschbäumen – eher eine Plantage denn ein Garten – ganz oben am Rand des Jenaer Talkessels helfen. Ich musste Holzpfähle, Stacheldraht und Zementsäcke für den Bau eines neuen »russensicheren« Zauns, wie Heinz es nannte, den extrem steilen, winzigen Pfad hinaufschleppen, der mir noch heute verhasst ist, für eine Wasserleitung den Kalksteinboden aufhacken und dergleichen mehr. Ein Teil meiner Rückenprobleme hat mit Sicherheit seinen Ursprung in dieser Zeit. Ich war nie der Größte in meiner Klasse, aber von da an immer der Stärkste. Und als ich nach meiner Flucht in den Westen zunächst in der Hochseefischerei gearbeitet habe – ein knochenharter Job –, sagten die Matrosen, dass sie noch nie einen Jungen (ich war damals gerade erst 17) erlebt hätten, der so zäh und ausdauernd arbeiten konnte.
    Manchmal frage ich mich, wie meine Mutter das alles zulassen konnte. Wenn ich vor Erschöpfung heulend nach Hause kam, war ihr einziger Kommentar: »Beiß die Zähne zusammen, es sind ja nur noch fünf (vier, drei …) Jahre.« Damals habe ich das als völlig normal angesehen, dachte, ich mache dann sowieso eine Ausbildung, studiere, fahre zur See oder gehe gar zur Armee. Die einzige Erklärung, die ich heute habe, ist, dass sie mich nicht wirklich geliebt hat. Einmal, da war ich 14, fuhr sie mit meinem Stiefvaterin den Sommerferien nach Mecklenburg und ließ mich allein zu Hause. Ich musste in dieser Zeit den Garten um ein vorgegebenes Stück erweitern, dazu Weißdornsträucher, Schlehenbüsche und kleine Eichen samt Wurzeln beseitigen.

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