Ein deutscher Wandersommer
obwohl wir noch lange nicht im Grenzbezirk waren. Andererseits hatten wir nur zwei sogenannte Bruderländer, in die man mit nur einer Art Freizügigkeitsbescheinigung – einem kleinen Anhang im Personalausweis, den man bei der Polizei erhielt – einreisen konnte. Das waren die Tschechoslowakei und Polen. Für alle anderen Länder brauchte man ein Visum, und für mich als Minderjährigen war da nicht ranzukommen – die Eltern durften ja nichts erfahren.
Schließlich kam ich zu dem Schluss: Da wo ein Fluss die Grenze bildet, könnte es klappen. Es müsste aber ein Fluss sein, der als solches schon ein großes Hindernis darstellt, denn dann, so meine Überlegung, sind da vermutlich keine riesigen Mauern und Zäune und Selbstschussanlagen. In der Tschechoslowakei, so erzählte man sich, gab es überhaupt keine Selbstschussanlagen. Und nördlich von Bratislava, Pressburg, ist die Donau für ein kurzes Stück Grenzfluss – da könnte ich es versuchen …
Was ich in der GST gelernt habe, hat mir bei meiner Flucht sehr geholfen. Ich wusste zum Beispiel, dass man noch lange nicht tot, sondern nur entdeckt ist, wenn geschossen wird, ob nun mit einer Waffe oder mit Leuchtkugeln. Jemand ohne militärische Vorbildung bleibt in so einem Fall wahrscheinlich stocksteif stehen und nimmt die Hände hoch; für mich war ganz klar: Wenn es knallt, werfe ich mich flach auf den Boden, finde heraus, woher die Schüsse kommen, und versuche zu entkommen. Wir waren in der GST auch im Nahkampf ausgebildet worden, haben gelernt, jemanden mit dem Messer oder einer Kampfsporttechnik – oder einer Mischung aus beidem – kampfunfähig zu machen. Außerdem hatte ich das »Bestenabzeichen«; dafür musste man 18 Klimmzüge schaffen, mit dem Gewehr ziemlich gut schießen können sowie einige Absprünge aus dem Flugzeug und lange Märsche mit Gepäck nachweisen. Ich war also durchtrainiert, und ich wusste, was ich konnte. All das hat mir die Angst vor der Grenze genommen. Respekt hatte ich, ja, aber keine Angst. Ich ging davon aus, dass ich es schaffen konnte.
Ich war mir so sicher, dass ich nie zurückkommen würde, dass ich Dinge verschenkte, an denen mein Herz hing, zum Beispiel meine Schmetterlings- oder meine Mineraliensammlung und mein großes Luftgewehr, meinEin und Alles. Den Freunden, denen ich diese Dinge gab, erzählte ich, dass ich keine Lust mehr darauf hätte. Das war sehr leichtsinnig, denn wenn sich jemand von allen Sachen trennt, die ihm viel bedeuten, werden die Leute schnell misstrauisch. Aber ich hatte Glück, und niemand schöpfte Verdacht. Und der Einzige, dem ich meinen Fluchtplan anvertraute, ein Schulkamerad, hütete mein Geheimnis.
Als Angler getarnt, reiste ich am 13.Oktober 1976, drei Wochen vor meinem 17.Geburtstag, mit dem Zug in die Tschechoslowakei ein. Meinen Eltern hinterließ ich eine kurze Nachricht, dass ich bei einem Freund sei, um mir etwas Vorsprung zu verschaffen. An der Grenze wurde ich prompt kontrolliert. Ich gab an, einen Freund in Prag besuchen und mit ihm zum Angeln gehen zu wollen. So weit, so gut. Ich hatte natürlich Angelzeug dabei, daneben aber auch einiges, was ein Angler nicht unbedingt braucht, wie Fallschirmjägermesser, Fernglas, Kompass oder Landkarten. Das schien den Grenzern irgendwie nicht zu gefallen. Sie holten mich aus dem Zug und unterzogen mich einem regelrechten Verhör. Wie der Freund heiße – ich hatte mir für diesen Fall einen tschechisch klingenden Namen ausgedacht. Wo der Freund wohne – eine Adresse hatte ich mir aus dem Prager Stadtplan herausgesucht; zum Glück, denn sie prüften sie nach. Woher ich den Freund kenne – den hätte ich in der DDR beim Angeln kennengelernt. Warum ich eine Tarnjacke dabei habe – für den Fall, dass es regne; es sei die einzige Jacke, die ich hätte. Und noch einmal hatte ich Glück: Sie übersahen beim Untersuchen meiner Sachen die eine kleine Karte von der Donau. Das war verdammt knapp. Letztlich hat mich wohl nur gerettet, dass ich so jung war und sie mich deshalb für harmlos hielten. Ich werde nie vergessen, wie die Straße meines »Freundes« in Prag hieß: Rubinstein.
Erst einmal in der Tschechoslowakei, wurde ich kein einziges Mal mehr kontrolliert. Von Prag fuhr ich gleich in Richtung Bratislava weiter, stieg einige Kilometer vor der Stadt aus dem Zug und schlug mich die letzten 15 Kilometer mit Karte und Kompass über Felder und Sümpfe in die Berge bis nah an die Grenze. Mit meinem halben Fernglas – ich hatte mir immer
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