Ein deutscher Wandersommer
Nach ihrem Urlaub arbeiteten Heinz und ich noch zwei Wochen gemeinsam im Garten, erst dann durfte ich für zwei Wochen zu meinen Großeltern nach Gotha. Und meine Mutter, die sehr genau wusste, wie gern ich angelte, erzählte mir nach ihrer Rückkehr aus Mecklenburg auch noch, wie viele Angler dort waren und welch große Hechte es dort gab. Ich konnte nie mit ihr über jene Zeit reden, denn so etwas kann man nicht am Telefon oder in Briefen klären, wenn Dritte mithören und -lesen, und sie starb, bevor ich amnestiert wurde und wieder in die DDR reisen konnte.
Als Kind beziehungsweise Jugendlicher suchte ich die Schuld für das Verhalten meiner Mutter und meines Stiefvaters bei mir, wie es viele misshandelte und gedemütigte Kinder tun. Ich buhlte sogar um Heinz’ Zuneigung und suchte ihn als Freund zu gewinnen. Nachdem ich in den Westen geflüchtet war, schrieb ich eine Karte, auf der stand: »Macht Euch keine Sorgen, ich bin in Österreich …« Danach schickte ich jahrelang Pakete, unter anderem mit Werkzeug für Heinz, auch weil ich Schuldgefühle wegen meiner Flucht hatte. Meine Eltern ließen mich nämlich wissen, dass sie nach meiner Flucht Repressalien zu erleiden hatten, wobei meiner Mutter, die als Vermessungsingenieurin sogenannter Geheimnisträger war, nicht viel passiert ist. Sie wurde nach Jena versetzt, wo sie witzigerweise schon immer hinwollte. Und mein Stiefvater verwies darauf, dass ich nicht sein Sohn sei und er ohnehin nie mit mir klargekommen sei. Als ich zur See fuhr und bei der Handelsmarine gut verdiente, schickte ich ihnen Geld. Sieschrieben dann, dass sie sich im Intershop – so hießen die Geschäfte in der DDR , in denen man mit Devisen Westprodukte erstehen konnte – dies und das gekauft hatten, und ich dachte mir, du sparst hier auf ein neues Fernglas, und die kaufen sich die tollsten Sachen.
Auf der Wanderung stiegen die Erinnerungen an jene Jahre und meine Jugend sowie die Gefühle von damals besonders intensiv in mir hoch. Vermutlich weil ich gerade entlang dem Grünen Band vielen Menschen mit einer ähnlichen Geschichte begegnete, Menschen, die mir von einem schlechten Elternhaus erzählten, von Drangsalierung, von Freiheitsdrang und der Erkenntnis, dass ein solches Leben nicht das richtige für sie sei.
Mit 15 Jahren dann dachte ich: Warum eigentlich zur Armee? Warum eigentlich ein Studium in der DDR ? Wenn schon weg, dann richtig. Mach doch das, wovon du schon immer geträumt hast. Geh in die Welt und lebe dein Leben, wie du es dir erträumst, mach die Sachen, von denen du bei Jack London und Mark Twain gelesen hast. Hinzu kam wahrscheinlich auch eine Art Hormonschub, ich war ja mitten in der Pubertät.
Das spannendste Kapitel meines Lebens
Die Idee wurde jedenfalls immer konkreter. Ich kaufte mir Landkarten, schaute mir die DDR und ihre Grenzen an, überlegte, wie und wo ich aus dem Land flüchten konnte. Das war eine sehr aufregende Zeit und ist für mich bis heute eines der spannendsten Kapitel meines Lebens. Zum einen Teil dachte ich ganz analytisch, und zum anderen versank ich in Träumereien. Ich kannte die andere Welt ja nur aus ein paar Büchern und Filmen.
In der DDR wurde natürlich oft über Flucht gesprochen, viel darüber gemutmaßt. Es wurden Phantasiegeschichten erzählt, andererseits gab es tatsächlich die unmöglichsten Formen der Menschenschmuggelei. Der Klassiker war, dass sich in Rostock oder Danzig jemand auf ein Schiff geschlichen hat, das nach Westen fuhr. Oder man hörte von Leuten, die sich Tauchanzüge besorgt hatten und durch die Ostsee geschwommen waren. Einige wurden von einem bundesdeutschen Fischkutter oder Küstenschiff aufgenommen, viele jedoch sind ertrunken oder von DDR -Schiffen aufgegriffen worden. Aber wie gelangte man dahin? Man hörte immer wieder, da ist einer an der Grenze angeschossen oder gar erschossen wurden, und dort haben sie einen festgenommen, der brummt jetzt im politischen Gefängnis Bautzen oder Magdeburg seine Strafe für Republikflucht ab. Oder man hörte von Verschwundenen. Es gab ganz viele Geschichten und Gerüchte, wer was gewagt und dabei sein Leben oder zumindest seine Freiheit eingebüßt hat.
Mir war bald klar, dass ein Versuch an der innerdeutschen Grenze reiner Selbstmord wäre: Wir wurden sogar schon kontrolliert, wenn wir mit dem Zug nur Richtung Grenze fuhren, zum Beispiel nach Eisenach, um in der Hörsel Forellen zu angeln, und mussten dann unseren Personalausweis und unseren Angelausweis vorzeigen,
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