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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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dunklen unruhigen Wasser wieder aus den Augen.
    Nach, wie es mir schien, ewig langer Zeit spürte ich Grund unter mir. Ich robbte mich auf den Armen ans Ufer, zwischen Riedgras und Schilf. Ich hatte es geschafft! Aber meine Beine! Alles unterhalb des Nabels war taub! Es war ein fürchterliches Gefühl. Ich tastete meinen Bauch nach einem Ausschuss ab. Nichts – das heißt, ich hatte einen Steckschuss. Die Kugel saß, wie ich später erfahren sollte, ungefähr zwei Zentimeter neben der Wirbelsäule im unteren Rücken. Sie musste, wie die Ballistiker der österreichischen Kripo mir sagten, aus großer Entfernung abgefeuert worden sein, etwa 200 bis 260 Meter, vielleicht sogar von einem der Wachtürme aus. Es war also reiner Zufall, dass sie mich getroffen hatte. Aufgrund der großen Entfernung und weil das Geschoss durch das Wasser und die nasse Kleidung weiter abgebremst worden war, war es nicht sehr tief eingedrungen. Das hat mir das Leben gerettet.
    Plötzlich näherten sich Stimmen. Ich wollte mich schon bemerkbar machen, als ich hörte, dass die Männer tschechisch sprachen! Im ersten Moment glaubte ich mich verhört zu haben. Doch die tschechischen Grenzsoldaten besaßen tatsächlich die Unverschämtheit und Unverfrorenheit, mich bis ans österreichische Ufer zu verfolgen, denn die eigentliche Grenze liegt genau in der Flussmitte. Ihnen musste klar sein, dass sie damit, sollten sie entdeckt werden, einen internationalen Zwischenfall heraufbeschworen. Andererseits war es irgendwie verständlich, denn wenn eine Flucht gelang, mussten die Grenzsoldaten mit Repressalien rechnen.
    Kaum wieder zu Atem gekommen, schleppte ich mich nur mithilfe meiner Arme Richtung Wolfsthal. Bloß weg von den tschechischen Grenzern! Wolfsthal liegt nicht weit entfernt vom Ufer, und doch brauchte ich eine Ewigkeit dorthin, weil ich mich immer wieder ausruhen musste. Als ich das kleine Dorf endlich erreichte, etwa um halb drei, drei Uhr morgens, war ich mehr tot als lebendig. Ich konnte meine Augen nicht mehr offen halten und war zu erschöpft, um nach Hilfe zu rufen. Schließlich entdeckten mich trotz der späten beziehungsweise frühen Stunde ein paar Betrunkene, die auf dem Nachhauseweg vom Weinfest an mir vorbeitorkelten.
    »He, schaut’s euch mal den an. Der muss ganz schön besoffen sein, der kann ja nicht einmal mehr gehen«, grölte einer, und alle lachten.
    »O Scheiße«, rief plötzlich ein anderer, »der ist ja patschnass und hat eine Tarnjacke an, der kommt von drüben!«
    Schlagartig verstummte das Lachen, und eine Weile herrschte Stille. Dann spürte ich, wie ich hochgehoben und in ein Haus getragen wurde, und hörte, wie einer die Gendarmerie verständigte.
    Als ich wieder zu mir kam, lag ich frisch operiert in einem Krankenhausbett. Mein Blick fiel auf einen älteren Polizisten, der ganz behutsam die seltenen DDR -Briefmarken, die ich in einer offensichtlich nicht wasserdichten Tüte bei mir getragen hatte, voneinander löste und auf dem nicht belegten Nachbarbett zum Trocknen ausbreitete. Diese Briefmarken, die ich zu verkaufen gehofft hatte, ein paar DDR -Mark und tschechische Kronen sollten mein Startgeld sein.
    »Junge, Junge, du machst Sachen«, sagte der Mann kopfschüttelnd, als er merkte, dass ich wach war und ihn beobachtete.
    »Werde ich zurückgeschickt?«, fragte ich, denn das war meine größte Angst. Ich hatte ja meinen Personalausweis dabei, und so wusste die Polizei, dass ich minderjährig war.
    »Naa, hier bist frei«, beruhigte er mich in seinem breiten österreichischen Dialekt und erklärte mir, dass man nach österreichischem Gesetz ab dem 14. Lebensjahr frei entscheiden kann, ob man bleiben oder doch lieber zurückkehren will.
    Die eigentliche Befragung übernahmen Kriminalgendarme – oder wie die sich nannten; die Österreicher hatten für meine Begriffe lauter umständliche Worte. Sie wollten alles über die Flucht wissen und ob es vielleicht einen Kumpel gab, der irgendwo tot oder schwer verletzt im Schilf lag. Dass ich ganz allein geflohen war, wollten sie mir nicht glauben. Und dann fragte so ein Idiot von der Kripo: »Oder bist ein Spion?«
    Das werde ich nie vergessen. Ich dachte mir, das kann ja wohl nicht sein!, immerhin hat man mir gerade eine Kugel aus dem Rücken geholt! Aber wahrscheinlich hatte er in der Ausbildung gelernt, dass man einen Flüchtling das fragen muss. Als Nächstes bekam ich Besuch vom Verfassungsschutz, zuerst von der »guten Tante«, die mir Kuchen mitbrachte und

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