Ein deutscher Wandersommer
Verletzungen anrichten, schwang mich darüber und ließ mich auf der anderen Seite zu Boden fallen. Genau so, wie wir das in der GST geübt hatten. Das ging mit einer Geschwindigkeit und Leichtigkeit, dass ich fast das Gefühl hatte, als hätte jemand nachgeholfen. Dass ich mir trotz meiner damals nur 62, 63 Kilogramm bereits bei diesem ersten Zaun die Haut an den Händen aufgerissen hatte, spürte ich nicht. Ich war bis unter die Haarspitzen mit Adrenalin vollgepumpt. Als Nächstes kam, wie ich von meinen Beobachtungen her wusste, eine große Stacheldrahtrolle, die man nur mit einem Riesenhechtsprung überwindenkonnte. Ohne Probleme setzte ich darüber hinweg und lief auf den zweiten Zaun zu. Auf einmal ein Schlag gegen mein Knie, und ich flog zu Boden – ein Alarmdraht in Kniehöhe, den ich von meinem Beobachtungsposten aus trotz Fernglas nicht hatte sehen können, hatte mich zu Fall gebracht.
Augenblicklich gingen an beiden Wachtürmen die Scheinwerfer an, ich hörte Stimmen, und kurz darauf stiegen Leuchtkugeln in die Luft. Ich rappelte mich wieder hoch, rannte weiter – jetzt zählte jede Sekunde –, über eine ebene, saubere Fläche, womöglich ein Minenstreifen, überwand den zweiten Zaun. Nun waren es vielleicht noch fünfzig Meter bis zur Donau. Ich lief auf den dritten Zaun zu, während immer mehr Leuchtkugeln die Nacht erhellten. Dieser dritte Zaun war sehr alt, die Pfähle noch aus Holz statt Beton. Als ich fast oben war, gaben die morschen Pfosten nach und das Gebilde stürzte mit und über mir zusammen. Zwar zählte ich darauf, dass die Grenzsoldaten erst zu den Durchgängen laufen würden und diese erst aufschließen mussten, was alles Zeit kostete, dennoch geriet ich in Panik. Alles, was ich gelernt hatte, war in dem Moment vergessen, etwa, dass man in einem solchen Fall keine unkontrollierten Bewegungen machen sollte, denn dann verheddert man sich nur immer stärker und die Grenzer haben letztlich leichte Beute. Ich strampelte also wie wild, zerriss mir dabei meine Tarnjacke und meine Hose, obwohl die aus recht derbem Material waren, und zerschnitt mir die Hände, wovon bis heute die unendlich vielen Narben erzählen. Doch ich hatte unglaubliches Glück, denn plötzlich spürte ich, dass ich frei war. Ich sprang auf, rannte in den Fluss und schwamm los.
Die Donau hat dort eine sehr starke Strömung, die mich sofort mitnahm. Ich wusste, dass ich nicht zu weitabgetrieben werden durfte, denn bald würde die Donau nicht mehr die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich sein, sondern zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn. Und Ungarn war ein Bruderland der DDR . Mit aller Kraft schwamm ich schräg gegen die Strömung und konzentrierte mich auf das gegenüberliegende Ufer.
Dann hörte ich die ersten Schüsse. Ich hörte die Abschüsse und ebenso, wie die Kugeln ins Wasser klatschten oder ins österreichische Ufer einschlugen. Die schießen unkontrolliert, wurde mir nach einigen Schrecksekunden bewusst, das heißt, sie haben mich noch nicht geortet. Gut! Im selben Moment wunderte ich mich, warum es auf der österreichischen Seite völlig ruhig blieb. Da muss es doch auch Grenzsoldaten geben, und die müssen doch die Leuchtkugeln sehen und die Schüsse hören! Na, weil es so eine lausige Nacht ist, sitzen die wahrscheinlich in ihrer Wachstube und spielen Karten, so meine Überlegung. Später erfuhr ich, dass sie sich, statt die Grenze zu bewachen, auf dem Wolfsthaler Weinfest betrunken hatten.
Auf einmal schlugen in direkter Nähe mehrere Kugeln ins Wasser ein, dann spürte ich einen starken Stoß in den Rücken, als hätte mir jemand mit einem großen Hammer ins Kreuz geschlagen; ich war getroffen. Kein Schmerz, nur ein dumpfes Gefühl, aber ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen! Nur mit den Armen kämpfte ich mich voran. Mittlerweile war ziemlich viel Zeit vergangen, ziemlich viel heißt in dem Fall etwa zehn Minuten. Dann sah ich ein Schnellboot, das mit einem Scheinwerfer den Fluss ableuchtete. Bitte lass es Österreicher sein! Aber es war ein tschechisches Boot, das nach mir suchte. Ich tauchte, schwamm unter Wasser weiter, musste mich zwischendurch der Strömung überlassen, um meine Kräfte zu schonen. Ab und an holte ich Luft, nicht zu viel, um nicht an dieOberfläche zu treiben, und arbeitete mich so Richtung österreichisches Ufer vor. Dabei geriet ich einmal in den Scheinwerferkegel des Bootes. Blitzschnell tauchte ich wieder ab, und die Verfolger verloren mich in dem
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