Ein deutscher Wandersommer
ein ganzes für Tierbeobachtungen gewünscht – beobachtete ich aus etwa 150 Meter Entfernung das Tal unter mir: zuerst kam eine Straße, dann die Grenzanlagen – Wachtürme in unregelmäßigen Abständen, aber so eng, dass die Grenzsoldaten von einem zum nächsten sehen konnten, dazwischen hintereinander drei Metall- und Stacheldrahtzäune –, dahinter die Donau. Das kleine Dorf am österreichischen Ufer musste Wolfsthal sein. Es lag so nah, dass ich sogar die Traktoren über die Felder fahren sah.
Ich fühlte mich in meinem Element, wie ein richtiger Fallschirmjäger, der auf feindlichem Gebiet abgesprungen war und die Lage sondierte. Nichtsdestotrotz war ich total aufgeregt. Das, was wir in der GST jahrelang geübt hatten, war jetzt Ernstfall. In allem steckt auch etwas Gutes. Der vormilitärische Drill an der Schule und in der GST hatte mir, abgesehen von bestimmten Fähigkeiten und Kenntnissen, Sicherheit gegeben, eine gewisse Souveränität. Und der Hass und die Verzweiflung, die aus der Familiensituation entstanden, hatten mich sehr stark und entschlossen gemacht und mir die Entscheidung wegzugehen erleichtert. Es gab für mich kein Zurück mehr.
Von 14. bis 16.Oktober verfolgte ich von meinem Posten in den Bergen aus das Geschehen. Ich war derart auf mein Vorhaben konzentriert und stand so unter Strom, dass ich fast zu essen vergaß, wobei ich ohnehin nur ein bisschen Brot und ein paar Kekse dabeihatte. Nachts leuchtete malein Jeep mit Scheinwerfern in die Hänge rein, aber ich war so gut getarnt, dass man zwei Meter an mir hätte vorbeilaufen können, ohne mich zu bemerken. Außerdem hatte ich es gelernt, mich im Gelände unsichtbar zu machen. Fallschirmjäger und Scharfschützen mussten das beherrschen, sonst wäre ihr Auftrag nicht ausführbar.
Am meisten Respekt, eigentlich Angst, hatte ich vor den Patrouillen, die Schäferhunde mitführten. Wenn dich ein Spürhund in die Nase bekommt, reckt er sie, und der Hundeführer weiß: Da ist was, das da nicht hingehört, und geht der Sache nach. Ruckzuck hat der Hund einen dann aufgespürt, und man ist verloren. Zum Glück stand der Wind die ganze Zeit über auf mich zu. Ich versuchte einen Rhythmus in den Grenzpatrouillen zu erkennen, aber da war keiner; sie kamen völlig unregelmäßig.
In der dritten Nacht, von Samstag auf Sonntag, der Nacht vom 16.Oktober, wurde es recht kühl und ein bisschen diesig, dann fing es auch noch sacht zu regnen an. Ich dachte mir, das ist deine Nacht, und gegen Mitternacht beschloss ich, es tatsächlich zu wagen. Mein Angelzeug, meinen kleinen Rucksack und alles, was ich nicht unbedingt brauchte, ließ ich zurück. Das Gefühl damals werde ich nie vergessen. Ich war aufs Höchste erregt und angespannt, gleichzeitig voll konzentriert.
Hundert Meter, fünfzig Meter, 25 Meter … Ich versuchte alles wahrzunehmen, lauschte auf Geräusche, doch um mich herum herrschte nur Stille. Dann schreckte ein Reh. Ich warf mich flach auf den Boden, verharrte. Nach einigen Sekunden hob ich vorsichtig den Kopf. Auf dem einen Wachturm, den ich durch mein kleines, nicht sehr lichtstarkes Fernglas sehen konnte, keine Reaktion. Auf dem anderen sah es aus, als rauchte einer eine Zigarette; jedenfalls sah ich hin und wieder ein kurzes Aufglimmen. Okay,dachte ich, die Jungs sind entspannt, die haben nichts mitgekriegt. Langsam erhob ich mich, prüfte, ob Fernglas, Messer und Kompass noch an ihrem Platz waren, und weiter ging’s. Geduckt passierte ich die Straße und stand kurz darauf vor dem ersten Zaun, nicht wie in der DDR ein Metallstreckzaun, sondern ein zwischen Betonpfählen straff gespannter Stacheldraht, der am oberen Ende an Stahlwinkeleisen überkragte.
Dann kam der Punkt, der mich am meisten Überwindung kostete. Mir war klar, dass es ab dem Moment, in dem ich den Zaun hochzuklettern begann – ihn mit meinem Messer durchzuschneiden zu versuchen hielt ich für aussichtslos –, kein Zurück mehr gab. Ich wartete und zögerte, beinahe verließ mich der Mut. Die Zeit wurde immer knapper, denn bald musste die nächste Patrouille kommen. Ich schnaufte noch einmal tief durch, dann hangelte ich mich den ersten Zaun hoch. In der GST hatten wir gelernt, dass die beste Stelle da ist, wo ein Drahtzaun an einem Pfosten fixiert ist, weil er da am stabilsten ist und am wenigsten schwingt. Ich kletterte bis zu dem überstehenden Abschluss, der zum Glück nicht aus sogenanntem NATO -Draht bestand, dessen kleine scharfe Messer grauenhafte
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