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Ein deutscher Wandersommer

Ein deutscher Wandersommer

Titel: Ein deutscher Wandersommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kieling
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gewaltiges Exemplar. Waldarbeiter hatten Einstein als etwa zwei Wochen alten Frischling zu Grit gebracht, und die hatte ihn mit der Flasche großgezogen. Inzwischen war Einstein fünf Jahre alt. Er war relativ zahm, aber als er auf mich zukam, stieg ihm wohl Cleos Geruch, die am Zaun angebunden wie wild bellte und sich nicht mehr einkriegte, in die Nase, und da biss er mich erst mal ins Knie, so ganz behaglich in meine Kniescheibe. Obwohl ich danach zwei Tage lang humpelte, hatte ich Glück gehabt, denn normalerweise beißen Keiler nicht so »vorsichtig«, sondern schlagen einem ihre Eckzähne bis in den Muskel hinein.
    Grit griff schnell in einen Eimer, der neben der Stalltür hing, zog ein paar Walnüsse hervor, Einsteins Lieblingsspeise, und lenkte ihn damit von mir ab. Mit seinem gewaltigen Gebräch, seinem Kiefer, zerbiss der Keiler die Nussschale wie nichts und schluckte Nuss samt Schalenstückchen genüsslich hinunter.
    »Der geht sogar mit in die Küche«, sagte Grit. »Vermutlich ist er der einzige Keiler Deutschlands, der so etwas darf.«
    »Ja, vermutlich, aber nicht jetzt, oder?«, entfuhr es mir. Für den Moment hatte ich genug von Einstein.
    Hans und Grit lachten, sperrten das Monster jedoch bereitwillig wieder in seinen Stall. Das heißt, Grit bugsierte Einstein hinein, denn wenn der einen schlechten Tag hat, darf ihm nicht einmal Hans, sondern nur sein Frauchen nahe kommen. Im Moment war er zwar ruhig, aber wer wusste schon, wie er reagieren würde, wenn ihm wieder Cleos Geruch in die Nase fuhr. Und irgendetwas schien ihm tatsächlich nicht zu passen. Denn kaum war die untere Hälfte der zweigeteilten Stalltür verriegelt, stellte sich Einstein auf die Hinterbeine, stützte die Vorderläufe an der Tür ab, grunzte und klapperte wie wild mit den Zähnen. Sehr beeindruckend! Wirklich sehr beeindruckend!
    Beim Frühstück erzählten Hans und Grit, wie sie als Förster die Jahre der Wende erlebt haben. Die großen Staatsjagden mit fremden Regierungschefs und hochrangigen Diplomaten als Jagdgästen gehörten erst einmal der Vergangenheit an. Doch damit kehrte keine Ruhe ein, im Gegenteil. Plötzlich waren die Eigentumsrechte am Wald nicht mehr klar. Menschen, die enteignet worden waren, wollten ihren Wald zurückhaben. Einige behaupteten, der Staat habe den Wald verwahrlosen lassen. Jäger, vor allem Hobbyjäger, aus Westdeutschland fielen wie Heuschrecken ein, wollten für kleines Geld Trophäenträger schießen. Sie dachten, für eine Stange Westzigaretten, einen alten, klapprigen Gebrauchtwagen, den sie für ein paar hundert D -Mark irgendwo im tiefsten Bayern oder Hessen gekauft hatten, eine Satellitenschüssel oder einen Farbfernseher von Philipps oder Telefunken – alles Objekte, die in den ersten Jahren im Osten sehr begehrt waren – könnten sie einen Hirsch oder einen Muffelwidder unter der Hand erlegen. Früher mussten sie mindestens nach Polen, Ungarn, Rumänien oder in die Tschechoslowakei fahren, um starke Trophäen zu schießen, und dann hatte sich auf einmal die sehr viel nähere DDR aufgetan. Die DDR beziehungsweise die neuen Bundesländer waren zudem sehr wildreich, die Bestände teilweise überhegt. Das sind sie vielerorts heute noch, und Hans vertrat den Standpunkt, dass die Schalenwildbestände, also die großen Pflanzenfresser, das heißt Rehwild, Muffelwild und Rotwild, stark reduziert werden müssten, damit wieder ein naturnaher Wald hochwachsen kann.
    Nicht nur Jäger kamen auf der Suche nach einer günstigen Gelegenheit, ebenso Antiquitätenhändler und -liebhaber, die für einen Apfel und ein Ei wertvolle Gemälde, alte Möbel, Kronleuchter oder Waffen eintauschten. Und Immobilienhaie, die die unbedarften Ostdeutschen übers Ohr hauten: Hübsches Haus, wir geben dir 30000 Mark dafür – und der Betrogene freute sich noch. Für ihn waren kurz nach der Wende 30000 Mark eine unvorstellbare Summe, und Häuser waren in der DDR nichts wert, Mietshäuser schon gar nicht. Die Mieten waren so niedrig, dass man davon nicht einmal die Instandhaltungskosten bestreiten konnte. Außerdem bekam man im Bedarfsfall keine Dachpfannen, keinen Putz, und Handwerker sowieso nicht, sodass die Häuser langsam verfielen. Meine eigene Familie hatte noch zu DDR -Zeiten ein Vierfamilienhaus, das sie mit den Mieteinnahmen nicht erhalten konnte, derStadt Gotha geschenkt. Und war froh, dass die Stadt das Geschenk annahm. Ein Haus aus der Jugendstilzeit, das muss man sich mal vorstellen! Mittlerweile ist es

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