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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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über seinem Rücken zum Stehen, klemmte ihn zwar ein, bildete aber gleichzeitig einen dachartigen Schutz, welcher die nachfolgenden Trümmer abhielt.
    Das Toben verebbte. Zurück blieb die Dunkelheit, eine schwer atembare Luft und die Fixierung zwischen Lyssa und der rettenden Platte. Armbruster war außerstande, sich zu befreien. Allein Kopf und Hände ließen sich bewegen, Rumpf und Beine jedoch steckten fest. Wenn nicht etwa eine Lähmung diese Unbeweglichkeit verursachte.
    Armbruster überlegte. Was ihn erstaunte, war die Tatsache, daß er den in höchstem Maße beengenden Zustand als weit weniger schlimm empfand, als er sich das vorgestellt hatte: begraben zu sein. Möglich, daß sein Dämmerzustand dazu beitrug, dieses Hin- und Herpendeln zwischen einer schattenrißartigen Klarheit der Gedanken und einer stückweisen Ohnmacht. Ja, sogar eine Art von Amüsiertheit ging wie eine Folge von Wellen durch ihn hindurch. Amüsiertheit angesichts der Tatsache, an seiner toten Frau geradezu festgenagelt zu sein. Sollte man ihn also rechtzeitig entdecken, bevor ihm hier die Luft ausging, beziehungsweise erst recht, wenn man ihn nicht rechtzeitig entdeckte, so würde der Eindruck entstehen, er habe sich im Moment der Katastrophe über seine Frau geworfen, um sie solcherart zu schützen. Was ihm möglicherweise auch gelungen wäre, wäre die arme Frau nicht von irgendeinem scharfkantigen Ding … von etwas in der Art eines Aschenbechers …
    »Was für eine Farce?« dachte Clemens Armbruster. Sodann verlor er endlich – man möchte sagen, wohlverdient – sein Bewußtsein. Nicht bloß stückweise, sondern vollständig und für längere Zeit.
     
    Als Clemens Armbruster erwachte, war alles vorbei. Er lag in einem Spital. Es war Nacht. Noch immer oder schon wieder. Ein Lämpchen brannte. Eine Frau in reinweißer Schwesterntracht beugte sich über ihn. Ihre Lippen bewegten sich. Er verstand kein Wort. Schöne Lippen, dachte er, wie zwei Schnecken beim Turnen.
    »Meine Frau …«, stammelte Armbruster.
    Die Lippen der Krankenschwester verbissen sich. Armbruster erkannte einen Ausdruck tiefen Bedauerns. Zufrieden schlief er ein.

27 Komm zur Polizei!
    Armbruster betrachtete das Plakat, auf dem ein junger Polizist und eine junge Polizistin dafür warben, einen der schönsten Berufe der Welt zu ergreifen. Wobei Armbruster wieder einmal ein kleines schlimmes Vorurteil bestätigt fand, daß nämlich Politessen etwas von proletarischen Schlampen an sich hatten. Es war dieser schmierige Blick, als wollten sie sagen, daß ihnen die Welt gehöre und daß sie jeden haben könnten, den sie haben wollten. Es war wohl auch ihre Art, das zumeist grellblonde oder tiefschwarze Haar nicht einfach zu kürzen, wie das etwa die vernünftigen Marathonläuferinnen taten, oder jene alleinstehenden Mütter, die kaum eine Minute Zeit hatten, um sich unter die Dusche zu stellen, nein, all diese Politessen, die ja immerhin den einen oder anderen Vorstadtganoven zur Räson bringen mußten, banden sich ihr langes Haar zu einem Zopf zusammen, und zwar zu einem Zopf, der stets die Fülle des Haars betonte, also eher breit als lang ausfiel. Es mag blöd klingen, aber diese speziellen Politessenzöpfe ließen an Silikon denken. Dazu paßte, daß die meisten dieser Frauen über ausgeprägte, üppige Lippen verfügten, was ja wohl nur bedeuten konnte – wenn man eine genetische Disposition ausschloß, und das mußte man wohl, wollte man nicht von rassischen Merkmalen sprechen –, daß eine Mehrheit der Politessen sich also ihre Lippen aufspritzen ließ. Um solcherart eine physiognomische Präsenz in der Art jener Ikone des Obszönen zu entwickeln, die da Mick Jagger hieß, eine Präsenz, welche das Gegenüber anzog und gleichzeitig ängstigte. Und das waren ja wohl auch die Gefühle, die sogenannte Schlampen sich bemühten bei jedermann auszulösen: Geilheit und Angst.
    Jedenfalls dachte das Armbruster, als er jetzt – in einem schmalen, aber ungemein hohen Gang auf einem schmalen, gar nicht hohen Sessel sitzend – hinüber auf das Plakat sah, auf dem ein Milchgesicht von Jungpolizist kaum an die Härten des Berufs denken ließ, während das polare Lächeln der blondgezopften Frau schon eher ein Dasein widerspiegelte, in dem der Kampf um das Gute nur zu gewinnen war, indem man selbstbewußt durch Höllen und Abgründe marschierte.
    Armbruster wußte nicht, was die Polizei von ihm wollte. Nun, wahrscheinlich redeten sie mit allen, die überlebt hatten.

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