Ein dickes Fell
Unglück hatte es den ganzen Tag und die ganze Nacht über geschneit, und erst am nächsten Morgen waren die letzten Flocken – merkwürdige Nachzügler, in der Art von Schutzengeln, die systematisch zu spät kommen, oder Leuten, die immer am Klo sind, wenn ein Tor fällt – auf die weiße Decke niedergegangen. Somit fand sich die gesamte Stadt in eins dieser pompösen Hochzeitskleider gehüllt, in denen die Bräute zu verschwinden drohen und bloß noch mit einem von vielen Glückstränen geröteten Gesichtchen aus ihrem Kleid herauslugen.
Wenn man also Wien als eine solche unter Massen von Seide und Spitze und Rüschen verborgene Braut erkannte, stellte sich die Frage, an welchem Ort der Stadt ein tränennasses Antlitz aus dem jungfräulichen Weiß ragte.
Als einen solchen Ort konnte man, wenn man wollte, die Spitze des im Norden Wiens gelegenen, gleich einem Zwergriesen neben der Donau dastehenden Leopoldsberg ansehen, dessen höchste, mit Wirtshaus und Kirche und Aussichtspunkt besetzte Stelle man gemütlich über die Höhenstraße und ungemütlich über den Nasenweg erreichen konnte. Warum er Nasenweg hieß, wußte Cheng nicht, vermutete aber, daß dies begründet war durch die Form des Berges, die an den gequollenen Zinken eines Alkoholikers erinnerte.
Als Kind und Jugendlicher war er oft diesen steilen, stark gewundenen, gewissermaßen den Nasenrücken bildenden Fußweg gegangen, auf dem man ein gutes Gefühl dafür entwickeln konnte, was ein Berg war: nämlich ein Hochhaus ohne Lift.
Die Zeiten waren lange vorbei, da Cheng solche Märsche auf sich genommen hatte. Zudem war ja Winter, das Wirtshaus geschlossen, der Weg auf Grund des Neuschnees so gut wie unpassierbar. Jedenfalls war Cheng über die Höhenstraße gekommen, einen Bus benutzend, der von hinten herum, vom Kahlenberg her, den Leopoldsberg anfuhr. Ein wenig unterhalb der Bergspitze erstreckte sich eine weite, ebene, betonierte Parkfläche inmitten von Wald, die nun freilich unter einem halben Meter Schnee lag, einzig unterbrochen durch die Fahrrinne der Autobuslinie 38 A, die hier oben ihre Endstation hatte und den Platz mittels einer Kehre einmal umrundete.
Ein Tag für Ausflügler war das nicht. Auch wenn es zu schneien aufgehört hatte, füllten schwere, dunkle Wolken den Himmel, die vermuten ließen, daß das Brautkleid noch nicht zu Ende genäht war. Es war dunkel wie nach Sonnenuntergang, obgleich früher Nachmittag. Nur wenige Fußspuren führten das kurze Stück hinauf zum Gipfel. Spuren, die sich Cheng zunutze machte, um leichter vorwärts zu kommen.
»Was für ein Scheißort, um sich zu treffen«, sagte Cheng, als er an der gemauerten Brüstung angelangt war, von der man einen weiten Blick auf die Stadt besaß, wäre diese Stadt nicht gerade wie in einer matten Glühbirne versteckt gelegen. Einer Glühbirne, die nicht brannte, versteht sich.
Der Mann, bei dem sich Cheng beschwerte, erwiderte: »Der Platz ist ausgezeichnet. Großartige Luft hier oben. Außerdem sind wir alleine. Ihre Schuld, wenn Sie mit Halbschuhen unterwegs sind.«
»Ich hasse Winterschuhe«, sagte Cheng. »Man fühlt sich damit, als stünde man in einem Kuhfladen.«
»Lieber in einem Kuhfladen stehen, als kalte Füße haben«, meinte der Angesprochene und klopfte sich mit mächtigen, gerippten, schwarzen Handschuhen auf die Seiten seines nicht minder mächtigen blaugrauen Anoraks. Dazu trug er Lederstiefel und eine in den Schaft der Stiefel gestopfte schwarze Jeans. Seine gepolsterte Daunenjacke verstärkte noch den Eindruck, daß dieser Mann einen aufgeblasenen Körper besaß, freilich nicht mit Luft aufgeblasen, eher mit einem heißen Gas, das sich im Zuge einer Rotation verfestigt und ein beträchtliches Gewicht entwickelt hatte. Schon beim ersten Mal war Cheng an diesem Mann der bauchartige Brustkorb aufgefallen, der den eigentlichen, auch nicht unbedingt kleinen Bauch in den Schatten stellte, ihn ungerechterweise als Marginale erscheinen ließ. Hier stand er also, im Wiener Schnee, jener Ludvig Dalgard, der angeblich für die norwegische Regierung tätig war. In jedem Fall war er es gewesen, der Cheng den Auftrag gegeben hatte, nach Wien zu fahren. Wie auch den Auftrag, sich mit Kurt Smolek in Verbindung zu setzen. Smolek, der jetzt tot war, obgleich man doch eigentlich hätte annehmen können, Götter, auch die kleinen, seien unsterblich.
»Wie konnte das geschehen?« fragte Dalgard und schob seine Pelzkappe ein Stück nach hinten. Seine Stirn glänzte
Weitere Kostenlose Bücher