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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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unangezogene Weise saß Frau Dussek – lächelnd in der Art einer offenen Konservenbüchse – in der Mitte des Zimmers in einem Fauteuil, der schon zu Zeiten Frau Kremsers hier gestanden hatte. Ja, alles, was sich in diesem Raum befand, gehörte der Kremserschen Epoche an. Darin bestand der zweite, noch tiefer gehende Schock. Denn eigentlich hatte Cheng eine deutliche Umgestaltung der Wohnung erwartet. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie schien vollkommen unverändert. Es handelte sich um dieselben Möbel, und – soweit Cheng sich erinnern konnte – war auch die Position aller Gegenstände erhalten geblieben. Auf den zweiten Blick jedoch machten diese Gegenstände, wie auch der Boden und die Wände, einen umgedrehten, einen überprüften Eindruck. Für einen Detektiv war dies sichtbar, daß nämlich alles in diesem Raum mehrfach und in der präzisesten Weise durchforscht und durchstöbert worden war. Flecken an den Wänden zeugten vom Öffnen einiger Stellen, Spalten im Parkett von der zeitweiligen Freilegung des Unterbodens. Die Möbel besaßen das leicht Gebrechliche mehrmals auseinandergenommener und wieder zusammengesetzter Objekte. Und was für diesen Raum galt, galt wahrscheinlich auch für jeden anderen der Wohnung, wie Cheng jetzt dachte.
    »Dummer Hund«, sagte Frau Dussek und vollzog eine obszöne Geste, indem sie ihre Beine unter dem weiten, grauen Rock spreizte und sich ans Geschlecht griff. Zeigefinger und kleinen Finger streckte sie aus. Man hätte meinen können, ein zwergenhafter Teufel gucke aus dem Schoß heraus. Gleichzeitig schüttelte Frau Dussek ihre große, weiße Brust in der gleichen Manier, mit der man sein Haar löst und hin und her wirft. Es sah weder komisch noch pervers aus. Einfach nur unheimlich.
    Cheng überlegte, was er sagen sollte, obwohl er eigentlich viel lieber wieder gegangen wäre. Aber das mußte nun mal durchgestanden werden. Allerdings …
    Cheng spürte einen Schlag gegen den Hinterkopf. Genauer gesagt, spürte er bloß, wie ein Gegenstand sich seinem Hinterkopf näherte. Er spürte die Bewegung. Der Schlag selbst ging augenblicklich in die eigene Ohnmacht über. Sie marschierten Hand in Hand, der erfolgte Schlag und die Ohnmacht, hinein in ein Dunkel, das wir immer erst im nachhinein als ein solches interpretieren. Dunkelheit scheint besser zu passen, als etwa zu sagen, die Ohnmacht sei weinrot mit gelben Kreisen gewesen und im Hintergrund habe jemand Memories Are Made Of This geträllert, was natürlich genauso stimmen könnte.
    Egal. Als Cheng zu sich kam, da saß er in einem Stuhl. Soweit wäre alles in Ordnung gewesen. Nicht in Ordnung war, daß dieser Stuhl auf einem Tisch stand, auf dem dann also auch Chengs Sohlen auflagen. Und schon gar nicht in Ordnung war der Druck des Stricks, der um seinen Hals führte. Gefesselt war Cheng nicht, weder an den Beinen noch an der einen Hand. Er hätte sich also aus der Schlinge befreien können. Theoretisch.
    Cheng kannte den Raum, in dem er sich befand. Es handelte sich um den alten Dachboden, welchen man erstaunlicherweise nicht in eins dieser todschicken Wohnateliers umgebaut hatte. Möglicherweise wäre die Erneuerung des Dachs zu teuer gekommen. Jedenfalls schien alles unverändert. Viel morsches Holz, dazu der Waschmittelgeruch, der dank millionenfach zum Trocknen aufgehängter Wäsche hier für ewig feststeckte. Auch wenn nun, immerhin war es ziemlich eisig, die zwischen die Balken gespannten bunten Schnüre verwaist waren.
    »Ich war oft hier oben«, sagte Cheng, erneut um einen ruhigen Ton bemüht, als schlürfe er brennend heiße Suppe mit dem Gesichtsausdruck eines an viel Feuer gewöhnten Drachen.
    »Zum Wäscheaufhängen. Was sonst auch?«
    »Ich trockne meine Wäsche im Trockner«, sagte Gregor Pavor. »Das ist weniger anstrengend. Auch wenn ich gestehe, daß die Sachen sich danach komisch anfühlen. Wie altes Papier.«
    »Geschah es hier oben?« fragte Cheng.
    »Nein, Frau Kremser starb in ihrer Wohnung.«
    »Was passierte damals?«
    »Können Sie es sich nicht denken?«
    »Ich kann mir nicht mal denken, warum Frau Dussek nackt in einem Sessel sitzt, der noch von Frau Kremser stammt. Einer Frau, das kann ich Ihnen versichern, die niemals auch nur in Gedanken sich halbnackt in ihrem Wohnzimmer aufgehalten hätte.«
    »Das glaube ich gerne. Frau Kremser wäre auch nicht mein Fall gewesen.«
    »Wie soll ich das verstehen. 1st Frau Dussek vielleicht Ihr Fall?«
    »Das werden Sie nicht begreifen«, meinte Gregor

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