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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Scheitern als Erzieher, genauer gesagt auf das Scheitern seiner Nerven zurückgeführt werden konnte. Denn Lehrer sein, oder auch Eltern sein, ist nicht wirklich eine Frage der Pädagogik, sondern der Nerven. Zukünftige Lehrer und Eltern sollten sich eigentlich einer Nerven-Prüfung unterziehen müssen. Erst die richtigen Nerven, dann die richtige Erziehung.
    Aber das war nun mal ein anderes Thema. Und für Lukastik niemals relevant gewesen. Nicht im Zusammenhang mit dem Studium der Wittgensteinschen Schriften. Wenn ein Satz richtig war, war er richtig. – Man stelle sich eine Person vor, die eine bahnbrechende, das Wohl der Menschheit zwangsläufig nach sich ziehende Entdeckung macht, sich nebenbei aber als vollkommen kaltblütiger Serienmörder herausstellt. Was sollte man tun? Die Entdeckung ignorieren?
    Lukastik hätte bis vor kurzem auf eine solche Frage geantwortet, daß man vernünftigerweise den Kriminellen hinter Gitter bringen müsse, sodann aber an die Auswertung seiner Erkenntnisse zu gehen habe. Ohne auch nur ein schlechtes Gewissen anzudenken. Oder gar ein Trojanisches Pferd zu befürchten.
    Doch etwas hatte sich verändert. Etwas war hinzugekommen. Etwas, das Lukastik als sentimentalen Zug abqualifizierte. Nichtsdestoweniger war er dagegen machtlos, wie man gegen ein Gefühl gerade dann machtlos ist, wenn es einen zur unrechten Zeit ereilt. Aber »unrechte Zeit« ist nun mal kein Argument, sondern eine Wehklage. Und Wehklagen zählen nicht.
    Im Rahmen seiner seltenen Beschäftigung mit Wittgensteins Biographie, war Lukastik – nicht zum ersten Mal, diesmal aber folgenschwer – auf den Namen Friedrich Waismann gestoßen, einen im Grunde vergessenen Philosophen, gleich den meisten Erdenbürgern wie nie gelebt. Waismann hatte im sogenannten Wiener Kreis um den Positivisten Moritz Schlick so leidenschaftlich wie routinemäßig über Wittgensteins Arbeit referiert, deren Systematisierung er betrieben hatte. Und war dafür von dem Jahrhundertgenie ziemlich unbedankt geblieben. Was natürlich an und für sich in Ordnung ginge, da die Funktion des Bewunderers der Applaus ist, und nicht umgekehrt (wenn Fußballer oder Sänger in Richtung auf ihr Publikum mit den Händen klatschen, ist das pure Koketterie, wenn nicht Hohn). Darin bestand also nicht das Verwerfliche, daß Wittgenstein seinen »Höfling« auch als solchen behandelte, ihn genaugenommen übersah. Freilich ist es eine Sache, jemand mit Absicht zu übersehen, ihn mittels Arroganz zu akzeptieren, eine andere, ihn zu verstoßen. Höflinge übersieht man, aber man läßt sie nicht im Stich.
    Waismann, auch von Moritz Schlick nicht gerade unterstützt, emigrierte 1937 nach Cambridge. Anstatt daß sich daraus in den folgenden Jahren ein verstärkter Kontakt zwischen dem Cambridge-Mann Wittgenstein und seinem Interpreten Waismann ergeben hätte, eine Bekräftigung des »Hofes«, des »Wiener Hofes«, scheint Wittgenstein jedermann vor Waismann gewarnt und von einem Besuch seiner Vorlesungen abgeraten zu haben. Was ja doch sehr an die Bösartigkeit eines kleinen Jungen erinnert, der einen ehemaligen Spielkameraden von einer Geburtstagsparty ausschließt.
    Dies alles war, gelinde gesagt, wenig freundlich. Andererseits konnte man Wittgenstein in keiner Weise dafür verantwortlich machen, daß Waismanns Sohn und Waismanns Frau sich in der englischen Emigration das Leben nahmen und Waismann selbst in Isolation starb. Natürlich nicht.
    Natürlich nicht, sagte sich Lukastik immer wieder. Und dennoch drängte sich ihm ein Zusammenhang auf, den er gerne ignoriert hätte. Er diagnostizierte Wittgensteins Kleinheit, eine Kleinheit, die viel tiefer lag als der Umstand schwacher Nerven. Eine Kleinheit, von der sich Lukastik fragte, ob sie etwa aus der Größe der philosophischen Gedanken resultierte. Wie ein hoher Berg mit der Winzigkeit seines Gipfels abschließt. Denn das wird ja bei Gipfeln stets übersehen, daß sie in der Regel aus ein paar Gesteinsbrocken, aus ein wenig Eis und sehr viel Ungeschütztheit bestehen. Wenn nicht aus der Peinlichkeit eines Gipfelkreuzes. Und im Vergleich zum restlichen Berg ein Nichts bedeuten, gleichwohl aus ihm herauswachsen und seinen äußersten, radikalsten Punkt bilden, untrennbar, sodaß man fragen könnte: Wie kann ein so großer Berg in eine so kleine Spitze münden?
    Dies war nun der Aspekt, den Lukastik widerwillig überlegte, ob nämlich Philosophie, ob jegliches Nachdenken über das Leben, einen schlechten Menschen

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