Ein dickes Fell
verführen. Ob man Kirchschläger angesehen hatte oder nicht angesehen hatte, war auf das gleiche hinausgelaufen. Kirchschläger war ein Name und eine in diesen Namen eingenähte Person gewesen.
Und trotzdem zierte das vergilbte Bild die Wand einer Kriminalabteilung. Eine mysteriöse Sache, die man eigentlich hätte enträtseln müssen. Aber wahrscheinlich gehörte diese obsolete Fotografie zu genau jenen Rätseln, die sich dadurch ergaben, daß niemand an ihnen rührte. Nun gut, immerhin war mittels dieses Präsidentenporträts die Zeit der späten Siebziger und frühen Achtziger in idealer Weise eingefroren. Denn auch die Epoche an sich war ziemlich blutlos und gesichtslos gewesen. Erst mit Waldheim, praktisch ohne dessen echtes Zutun, war, wie man so sagt, Leben in die Bude gekommen. Es ist traurig, aber in Österreich müssen immer die Nazis her, damit etwas los ist.
»Entschuldigen Sie, Cheng, daß Sie warten mußten«, sagte Straka durch die halboffene Türe und bat den Detektiv hereinzukommen.
»Das Kirchschlägerbild …?«
»Fragen Sie mich nicht, bitte! Es hing schon an der Wand, als ich hier einzog. Das war bereits nach der Waldheim-Ära, Klestil längst in Amt und Würden.«
»Sie hätten es auswechseln müssen.«
»Finden Sie, daß das meine Sache ist? Finden Sie das wirklich?«
»Na, komisch ist es schon«, konstatierte Cheng.
»Es fällt aber kaum jemand auf, wer da eigentlich an der Wand hängt. Sie sind einer von den ganz wenigen, ehrlich. Aber Sie sind ja auch Detektiv, nicht wahr?«
»Das war jetzt wohl ironisch.«
»Ja«, sagte Straka, wie man sagt: Die Erdbeeren werden auch immer schlechter.
Sodann machte er Cheng mit jenem zweiten Mann bekannt, der sich in Strakas Büro aufhielt, Chefinspektor Lukastik.
Dem Namen nach kannten Cheng und Lukastik einander, doch standen sie sich nun zum ersten Mal gegenüber. Wobei die beiderseitige Kenntnis sich gewissermaßen auf eine von den »Überschriften« beschränkte, die über Menschen aufzuleuchten pflegen: schön, häßlich, Wohltäter, ewiger Verlierer, Köchin, depressiv und so weiter. Im Falle von Cheng zielte die personenbezogene Überschrift auf seine spezielle Verletzungsanfälligkeit, als er noch in Wien gelebt hatte. Bei Lukastik hingegen war es dessen Schwäche für die Philosophie Wittgensteins. Allerdings muß gesagt werden, daß Lukastik gegenüber seinen Kollegen, überhaupt seiner Umwelt, so gut wie nie über Wittgenstein sprach. Man wußte darum. Das genügte.
Lukastik erklärte sich nicht. Oder nur andeutungsweise. Auch war er nicht bereit, einen großen Unterschied zwischen dem frühen Wittgenstein, dem des Tractatus, und dem späten, dem der Philosophischen Untersuchungen, zu machen. Und wenn einen, dann nur den, daß er einem schmalen Büchlein, also dem »dünnen« Frühwerk, den Vorzug vor einem dicken Band gab, weil der Reiz eines Schriftwerks, das man bequem in einer Hosen- oder Jackettasche unterbringen, zwischen zwei Fingern transportieren, sich damit Luft zufächeln, leichthändig ein Insekt verscheuchen und es eben immer bei sich haben konnte, weil dieser Reiz unschlagbar war.
Auch tendierte ein dünnes Buch dazu, einem Leser Dinge zu ersparen, auf die ein Leser gerne verzichten konnte. Der Nachteil manchen guten und auch sehr guten Buches lag einfach darin, daß es zu dick war. Und daß die Dicke allein dadurch begründet war, daß der Autor lieber ein dickes als ein dünnes Buch von sich in Händen hielt. Während ihm fremde Bücher gar nicht dünn genug sein konnten.
Wenn sich in letzter Zeit für Lukastiks Wittgensteinliebe ein Problem ergeben hatte, dann dadurch, daß Lukastik der eigenen Maxime untreu geworden war, nach welcher die geäußerten Gedanken eines Menschen von seinen Handlungen streng zu trennen und zu unterscheiden seien. Es also für die Richtigkeit eines Satzes vollkommen unbedeutend wäre, ob der Produzent dieses Satzes bunte, weiße oder schwarze Socken trug, ob er ein Unmensch, ein kleiner Heiliger oder völlig unentflammbar war. Was etwa für den Umstand galt, daß Wittgenstein in seiner Funktion als Volksschullehrer Schüler gezüchtigt hatte. Womit er selbst keineswegs einverstanden gewesen war. Nicht einmal das also. Ja, man könnte sagen, daß Wittgenstein sich aus seinem Lehrerdasein in die moderne Architektur geflüchtet hatte, daß sein ganzes Engagement bei der Planung und Errichtung des sogenannten Wittgensteinhauses in der Wiener Kundmanngasse einzig und allein auf sein
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