Ein dickes Fell
herausstellte. Neunzehntes Jahrhundert eben. Ganz anders Sam. Und obgleich er ja ein Literat war, der Literat, und diese fünf Männer Literaturwissenschaftler, konnte der Unterschied zwischen ihnen nicht größer sein.
Natürlich mußte Sam klar sein, daß wenn ich mich in solch massiver Herrenbegleitung in eine Bank begab, ich beim Herauskommen mit großer Wahrscheinlichkeit das Fläschchen 4711 bei mir haben würde. Was ja auch der Fall war. Ich hatte die Mutter aller Eau de Colognes aus dem Schließfach genommen, in einen wattierten, metallenen Behälter gefügt und diesen in meiner Handtasche verstaut. Dort lag es nun eingebettet zwischen zwei Kopftüchern, einem Ersatzbüstenhalter und einem ebenfalls kartonierten Flakon von Elisabeth Arden, It’s You . Zudem befand sich in dieser Handtasche, deren Oberfläche von rotem Leder aussah wie ein auf Büttenpapier zerriebenes Kilogramm Kirschen, mein obligates Taschenmesser. Zauberischerweise hatte diese handliche Stichwaffe bisher eine jede Flughafenkontrolle überstanden. Freilich nur darum, weil in meiner Tasche stets auch ein zerlesenes Exemplar von Thomas von Kempens Die Nachfolge Christi steckte. Genau das richtige Buch, wenn man gerade keine Antwort auf eine Frage wußte oder sich elend fühlte, und dann also mittels Lektüre erfuhr, daß es gut und richtig war, sich elend zu fühlen. Wie heißt doch ein Kapitel: Vom Segen der Trübsal.
Es ist immer das gleiche auf Flughäfen. Natürlich sieht man auf dem Schirm das kleine Messer. Natürlich fordert man mich auf, in meine Tasche zu greifen und es vorzuweisen. Statt dessen ziehe ich aber die Nachfolge Christi heraus – eine deutschsprachige Ausgabe, deren Umschlag eine Rembrandtzeichnung schmückt: Christus heilt die Schwiegermutter des Petrus – und halte dieses Buch wie ein Kreuz in die Höhe. Als müßte ich Vampire abwehren. Die Beamten sind dementsprechend konsterniert, legen ihre Stirn in Falten und erklären die Kontrolle für beendet. Das Messer vergessen sie. Selbst die Frauen, was ich erstaunlich finde. Eine Frau, die ein Messer vergißt, kann man schwerlich noch als ganz normal bezeichnen. (Auch wenn man mich für diese Bemerkung jetzt vierteilen möchte, muß ich sagen, daß Männer auf Bücher fixiert sind, Frauen aber auf Messer, gleich wie viele Bücher sie herumstehen haben, um sich gleichwertig zu fühlen.)
Ich verstaute also das 4711-Fläschchen in meiner Ein-Kilo-Kirschen-Tasche und fuhr mit meinen fünf Begleitern zum Flughafen. Der hochoffizielle Hamsun-Wittgenstein-Akt war für den folgenden Abend geplant.
»Da hinten, ist das nicht Sam Soluschka?« fragte einer von den Fünfen, als wir gerade unsere Plätze im Flieger einnahmen. Natürlich war es Soluschka. Er lächelte herüber und nickte wohlwollend, als wollte er sagen, wie gut es war, daß ich endlich das 4711 aus meinem Versteck geholt hatte. Zugleich lag in seinem Nicken auch Spott darüber, mich hinter fünf unschuldigen Literaturwissenschaftlern verbarrikadiert zu haben. Was ihn immerhin daran gehindert hatte, mich auf dem Weg zum Flughafen kidnappen zu lassen. Meine Begleiter mochten ungeeignet sein, ihn einzuschüchtern, aber er konnte auch nicht so tun, als wären sie nicht da.
39 Stadt der Zungen
Am Flughafen wurden wir von ein paar hocherfreuten Menschen empfangen, die mit viel Geschick durcheinandersprachen. In der Art eines polyphonen Chors.
Die Chorknaben brachten uns ins Hotel Sacher. Und das ist eigentlich schon ein Witz, dieses Hotel nämlich. Ein Witz darum, weil man sich in eine steingewordene, fleischgewordene und schokoladegewordene Fiktion begibt. Eine Hotelfiktion, berühmt für seine gleichnamige Torte, für seine Altehrwürdigkeit, für seine angeblichen und wirklichen Gäste, vor allem auch – wie ich mir erzählen ließ – für eine einstige Fernsehserie, in deren Mittelpunkt ein Portier des Hotels stand, wobei mir nicht klar wurde, ob dieser Portier nun tatsächlich im Hotel Sacher tätig gewesen war oder ein Schauspieler die Rolle verkörpert hatte. Aber eine solche Frage ist unerheblich, weil ohnedies alles an und in diesem Hotel auf einer Erfindung beruht. Nicht zuletzt der als ausgezeichnet geltende Geschmack der Sachertorte. Man benötigt die Einbildungskraft eines Zweimetermannes, der sich für Napoleon hält, um an dieser Süßigkeit seinen Gefallen zu finden. In Wirklichkeit schmeckt das Ding, so wie es aussieht: ein braunes Loch statt einem schwarzen.
Von meinem Zimmer aus sah ich
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