Ein dickes Fell
Wobei er sich nicht etwa hinter die Theke oder in eine Ecke des Gastraums verkrochen hatte, sondern genau in der tischfreien Mitte niedergegangen war. Und auf diese Weise so ziemlich den Weg versperrte, sodaß Besucher, die in den hinteren Teil des Lokals oder auf die Toilette wollten, über den Hund zu steigen hatten. Was niemandem ein Problem bereitete. Man war schließlich in Wien, wo die Leute gewohnt waren, über Hunde zu steigen wie vielleicht anderswo über heilige Kühe. Auch kam keiner der Gäste auf die Idee, den Wirten des Lokals, jenen ewigen und gesegneten Sparmeister namens Stefan, Herrn Stefan also zu fragen, ob das nun sein Hund sei, oder was der Köter hier eigentlich verloren habe. Die Existenz des Tiers wurde hingenommen, als sei es nie anders gewesen, als steige man seit Jahr und Tag über das feuchte, borstige Fell dieses Geschöpfs. Und als bestünde ein Wirtshaus zu allererst aus einem Wirtshaushund, als sei der Wirtshaushund die Keimzelle, aus der heraus der Rest entsteht. Was man den meisten Lokalen auch anzusehen meint. So wie der Haushund ja auch die Keimzelle seines Herrchens oder Frauchens zu sein scheint. Ein spezielles Auto die Keimzelle seines Benutzers. Das Buch die Keimzelle des Lesers. Die Sorge die Keimzelle dessen, der sich sorgt. Und so weiter. Und niemals umgekehrt.
Lauscher fühlte sich ausgesprochen gut aufgehoben. Nicht, daß er grunzte. Nicht, daß er sich ungebührlich streckte oder rekelte. Er behielt sein Wohlempfinden für sich, wie das Lebewesen mit ein wenig Anstand zu tun pflegen. Man muß sein Glück oder auch nur seine Zufriedenheit nicht jedermann unter die Nase reiben. Vielleicht geht es dem anderen ja nicht so gut, und das letzte, was der andere brauchen kann, ist eine hysterische Demonstration fremden Glücks.
Daß Lauscher sein Herrchen Cheng nicht vermißte, nicht zu vermissen brauchte, wurde schon erwähnt. Es sei aber nochmals betont, wie perfekt diese Beziehung zwischen Detektiv und Hund war, gerade dadurch, daß sie nicht nötig war. Wie auch die einzig vernünftige Liebe die wäre, auf die man jederzeit verzichten kann. Das Unglück der meisten Liebe resultiert genau aus dem gegenteiligen Anspruch, eben nicht verzichten zu können und zu wollen, sondern mit Haut und Haaren …
So frei Cheng in bezug auf sein Hündchen auch war, so wenig galt dies für seine Gefühle gegenüber Ginette. Er spürte dies deutlich, nicht unbedingt das übliche Ziehen in der Brust, aber doch etwas Körperliches. In der Art eines Stollens, der quer durch seinen Leib verlief, von einer Hüfte zur anderen, und durch den der kalte Wind strömte. Ginette fehlte ihm. Auch hatte er plötzlich Angst vor dem Leben. Einerseits, es zu verlieren, und nie wieder mit Ginette zusammen sein zu können, andererseits davor, es eben nicht zu verlieren und demnächst eine Menge Dinge in Angriff nehmen zu müssen, welche unangenehm privater Natur waren. Man denke nur an die kleine Lena, diese obergescheite Göre. Cheng witterte Schlimmes. Wenn Kinder sich derart ins Zeug legten, daß sie einem sogar das Leben retteten, dann hatten sie etwas vor. Etwas Weitreichendes, das die Erwachsenen erst begriffen, wenn es zu spät war.
Trotzdem: Das Gefühl der Liebe hielt Cheng umfangen wie ein schöner, warmer Schal. Ein Schal, lang und fest genug, um sich daran aufzuhängen. Und welcher Liebende würde nicht ans Aufhängen denken.
Diese Liebe begleitete Cheng hinaus nach Mauer, wohin jener Taxifahrer ihn brachte, welcher wie er selbst einem Chinesen glich, ohne einer zu sein. Die Wahrheit bestand darin: Ein Wiener chauffierte einen anderen Wiener. Das übrige war eine Illusion des Optischen.
Cheng bezahlte die Taxirechnung, ohne den anderen anzusehen, stieg grußlos aus dem Wagen und trat vor das Haus der Gemini-Villa. Der Schnee glühte im Licht der Straßenlaternen und eines klaren, mondigen Abendhimmels. Cheng erkannte sofort, in welchem Gefährt die Beamten saßen, die hier zur Beschattung einer Mordverdächtigen abkommandiert waren. Nichts gegen Polizisten, aber zur Observation wurden stets die unfähigsten und auffälligsten eingeteilt. Wie im Film, wenn sie mit Kaffeebechern und über die Finger hängenden Pizzas in ihren Autos hocken und die Frigidität ihrer Ehefrauen beklagen. Währenddessen triumphiert das Verbrechen.
Cheng drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. Sprechen aber mußte er nicht. Das Tor sprang auch so auf. Er trat in den Garten, der restlos im Schnee steckte. Ein Weg
Weitere Kostenlose Bücher